Ein Fiasko? Die Corona-Pandemie greift um sich, und wir treffen Entscheidungen ohne zuverlässige Daten
Zu einer Zeit, wenn jedermann nach besseren Informationen giert und in der Krankheits-Modellierer und Regierungen sowie Bürger in Quarantäne oder zumindest auf sozialer Distanz sind, fehlt es uns an zuverlässigen Belegen, wie viele Menschen infiziert sind oder wer noch infiziert werden könnte. Bessere Informationen braucht man als Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen von fundamentaler Bedeutung sowie bzgl. der Überwachung der Auswirkungen.
Drakonische Gegenmaßnahmen wurden in vielen Ländern ergriffen. Falls die Pandemie verschwindet – entweder von selbst oder aufgrund dieser Maßnahmen – mögen extreme soziale Distanz und Schließungen von Einrichtungen erträglich sein. Aber wie lange sollten diese Maßnahmen weiter befolgt werden, falls die Pandemie ohne Abschwächung weiter um den Globus rauscht? Wie sollen Politiker wissen, ob sie nicht mehr Schaden als Nutzen anrichten?
Impfseren oder bezahlbare Behandlungen benötigen viele Monate (oder sogar Jahre) für die Entwicklung und angemessene Tests. Angesichts dieser Zeitspanne ist vollkommen unbekannt, welche Folgen langfristige Einschränkungen der derzeitigen Art haben.
Die bislang gewonnenen Daten darüber, wie viele Menschen infiziert sind und wie sich die Epidemie weiter entwickelt, sind vollkommen unzuverlässig. Angesichts der begrenzten Tests bis heute werden einige Todesfälle und vermutlich die große Mehrheit der Infektionen nicht erfasst. Wir wissen nicht, ob wir die Infektionen um einen Faktor 3 oder 300 verringern können. Drei Monate nach dem Ausbruch fehlt den meisten Ländern, darunter den USA, die Fähigkeit, eine große Anzahl Menschen zu testen, und kein Land verfügt über zuverlässige Daten zur Verbreitung des Virus‘ in einer repräsentativen Stichprobe der allgemeinen Bevölkerung.
Dieses Fiasko bzgl. Belegen erzeugt eine gewaltige Unsicherheit hinsichtlich des Risikos, an Covid-19 zu sterben. Erfasste Todesfälle wie die offizielle Rate von 3,4% von der WHO lassen einen ebenso erschrecken wie sie bedeutungslos sind. Auf SARS-CoV-2 getestete Patienten sind unverhältnismäßig jene mit ernsten Symptomen. Da die Testmöglichkeiten der meisten Gesundheitssysteme begrenzt sind, dürfte sich der Bias bei der Auswahl in naher Zukunft sogar noch verschlimmern.
Die eine Situation, in der eine ganze geschlossene Anzahl von Menschen getestet worden ist, war auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess und deren in Quarantäne gesteckten Passagiere. In jenem Fall betrug die Todesrate 1,0%, aber das waren zumeist ältere Leute, unter welchen die Todesrate viel höher ist als unter jüngeren Menschen.
Projiziert man die Todesrate auf der Diamond Princess auf die Altersstruktur der US-Bevölkerung, läge die Todesrate unter allen infizierten Menschen etwa bei 0,125%. Aber da diese Schätzung auf einer extrem dünnen Datenlage beruht – es gab unter den 700 infizierten Passagieren und Besatzungsmitgliedern 7 Todesfälle – kann sich die wirkliche Todesrate von fünf mal niedriger (0,025%) bis fünf mal höher bewegen (0,625%). Es kann auch sein, dass einige infizierte Personen später sterben und dass Touristen unterschiedlich häufiger chronische Krankheiten haben – ein Risikofaktor bei SARS-CoV-2-Infektionen – als die allgemeine Bevölkerung. Fügt man diese zusätzlichen Quellen der Unsicherheit den Daten hinzu, variieren die Schätzungen der Anzahl von Todesfällen zwischen 0,05% und 1%.
Diese gewaltige Bandbreite beeinflusst Angaben, wie ernst die Pandemie ist und was man dagegen tun sollte. Eine Todesrate von 0,05% bei der gesamten Bevölkerung ist niedriger als bei einer jahreszeitlichen Grippe. Falls das die wirkliche Rate ist, dann wäre das Verschließen der Welt mit potentiell verheerenden sozialen und finanziellen Auswirkungen total irrational. Es ist so, als ob ein Elefant von einer Hauskatze angegriffen wird. Frustriert und in dem Versuch, der Katze auszuweichen, fällt der Elefant zufällig von einer Klippe und stirbt.
Kann die Todesrate von Covid-19 derartig niedrig sein? Nein, sagen einige und verweisen auf die hohe Rate bei älteren Menschen. Allerdings können sogar milde oder allgemeine Erkältungs-Coronaviren, welche seit Jahrzehnten bekannt sind, Todesraten bis zu 8% aufweisen, wenn ältere Menschen in Altersheimen damit infiziert werden. Tatsächlich infizieren derartig „milde“ Coronaviren Zehnermillionen Menschen in jedem Jahr, wobei 3% bis 11% dieser Menschen in jedem Winter ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Diese „milden“ Coronaviren könnten eine Rolle spielen bei vielen tausend Todesfällen in jedem Jahr weltweit, obwohl die große Mehrheit davon nicht mit genauen Tests dokumentiert wird. Stattdessen stellen sie das Rauschen unter den 60 Millionen Todesfällen pro Jahr aus allen möglichen Gründen.
Obwohl es erfolgreiche Überwachungssysteme bzgl. Grippe schon lange gibt, wird die Krankheit nur in winziger Zahl durch Laboratorien bestätigt. In den USA beispielsweise sind in dieser Saison 1.073.976 Testpersonen erfasst worden, von denen 222.552 oder 20,7% positiv auf Grippe getestet worden waren. Im gleichen Zeitraum lag die geschätzte Anzahl Grippe-ähnlicher Krankheiten zwischen 36 und 51 Millionen Menschen, von denen 22.000 bis 55.000 Personen starben.
Man beachte die Unsicherheit bzgl. Grippe-ähnlicher Krankheiten: eine 2,5-fache Bandbreite korrespondierend mit Zehner bis tausender Todesfälle. Jedes Jahr gehen einige dieser Todesfälle auf Grippe zurück und einige andere auf andere Vieren wie Coronaviren.
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Wenn wir davon ausgehen, dass die Sterblichkeitsrate bei Personen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, 0,3 % der Allgemeinbevölkerung ausmacht – eine mittlere Schätzung aus meiner Analyse von der Diamond Princess – und dass 1 % der US-Bevölkerung infiziert wird (etwa 3,3 Millionen Menschen), würde dies etwa 10.000 Todesfälle bedeuten. Das klingt nach einer riesigen Zahl, aber sie ist im Rauschen der Schätzung der Todesfälle durch „grippeähnliche Krankheiten“ versunken. Hätten wir nicht von einem neuen Virus dort draußen gewusst und hätten wir die Personen nicht mit PCR-Tests untersucht, würde die Zahl der Gesamttodesfälle aufgrund einer „grippeähnlichen Krankheit“ in diesem Jahr nicht ungewöhnlich erscheinen. Höchstens hätten wir vielleicht beiläufig festgestellt, dass die Grippe in dieser Saison etwas schlimmer als der Durchschnitt zu sein scheint. Die Medienberichterstattung wäre geringer gewesen als bei einem Basketballspiel der NBA in den USA zwischen zwei der bedeutungslosesten Mannschaften.
Einige sind darüber besorgt, dass die 68 Todesfälle durch Covid-19 in den USA (Stand bis zum 16. März) exponentiell steigen wird auf 680, 6800, 68.000, 680.000 … zusammen mit ähnlich katastrophalen Entwicklungen rund um den Globus. Ist das realistisch oder schlechte Science Fiction? Wie können wir sagen, an welchem Punkt eine solche Kurve zu steigen aufhört?
Die wertvollste Information, um diese Fragen zu beantworten, wäre das Wissen um die gegenwärtige Verbreitung der Infektion in einer Stichprobe der Bevölkerung sowie eine Wiederholung dieses Verfahrens in regelmäßigen Zeitabständen, um das Auftreten neuer Infektionen abzuschätzen. Traurigerweise haben wir diese Information aber nicht.
Angesichts fehlender Daten führt das Gerede von „Macht euch auf das Schlimmste gefasst“ zu extremen Maßnahmen sozialer Distanz und Einschränkungen. Unglücklicherweise wissen wir nicht, ob diese Maßnahmen etwas bewirken. Schulschließungen beispielsweise können die Übertragungsrate verringern. Aber sie können auch nach hinten losgehen, falls Kinder sich irgendwie sozialisieren, falls die Schulschließungen die Kinder dazu bringt, mehr mit anfälligeren älteren Familienmitgliedern zusammen zu sein, falls Kinder die Möglichkeit der Eltern unterbrechen, zur Arbeit zu gehen und so weiter. Schulschließungen können auch die Chancen verringern, eine Gruppenimmunität in einer Altersgruppe zu entwickeln, die von schweren Krankheiten verschont geblieben ist.
Diese Perspektive stand auch hinter der unterschiedlichen Haltung in UK, wo man Schulen geöffnet ließ, zumindest bis zur Abfassung dieses Beitrags. Angesichts fehlender Daten hinsichtlich der wahren Ursachen der Epidemie wissen wir einfach nicht, ob dieses Vorgehen brillant oder katastrophal ist.
Den Verlauf abzuflachen, um einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern, ist konzeptionell gut – theoretisch. Ein in Medien und sozialen Medien viral gewordenes Bildmaterial zeigt, wie die Abflachung der Kurve das Ausmaß der Epidemie reduziert, welches über der Schwelle dessen liegt, was das Gesundheitssystem in jedem Moment bewältigen kann.
Sollte das Gesundheitssystem doch zusammenbrechen, könnte die zusätzliche Anzahl von Todesfällen nicht nur dem Coronavirus geschuldet sein, sondern auch anderen allgemeinen Krankheiten und Umständen wie Herzattacken, Schlaganfällen, Traumata, Blutungen und so weiter, wenn diese nicht sachgemäß behandelt werden. Falls das Niveau der Epidemie das Gesundheitssystem wirklich in die Knie zwingt und extreme Maßnahmen nur wenig effektiv sind, dann macht das Abflachen des Verlaufs alles noch schlimmer: Anstatt während einer kurzen, akuten Phase zusammenzubrechen wird das Gesundheitssystem noch längere Zeit am Boden liegen. Auch darum brauchen wir Daten hinsichtlich des genauen Niveaus der Aktivität der Epidemie.
Ein Fazit ist, dass wir nicht wissen, wie lange Maßnahmen zur sozialen Distanz und Lockdowns aufrecht erhalten werden können, ohne erhebliche Konsequenzen für Wirtschaft, Gesellschaft und geistige Gesundheit zu zeitigen. Unerwartete Entwicklungen können auftreten, darunter eine Finanzkrise, Unruhen, Bürgerkrieg und ein Abschmelzen des sozialen Netzes. Wir brauchen mindestens unverzerrte Daten bzgl. des Auftretens der sich entwickelnden infektiösen Belastung für Entscheidungen.
Im pessimistischsten Szenario, an das ich nicht glaube, wäre es so: falls das neue Coronavirus 60% der globalen Bevölkerung infiziert und 1% der infizierten Menschen sterben, dann errechnen sich daraus 40 Millionen Todesfälle global, also etwa so viele wie während der Grippe-Pandemie im Jahre 1918.
Die große Mehrheit dieser Todesfälle würde Menschen mit begrenzter Lebenserwartung betreffen. Das ist anders als im Jahre 1918, als viele junge Menschen starben.
Man kann nur hoffen, dass das Leben wie im Jahre 1918 weitergeht. Im Gegensatz dazu kommt bei einer Sperrung von Monaten, wenn nicht gar Jahren, das Leben weitgehend zum Stillstand. Die kurz- und langfristigen Folgen davon sind völlig unbekannt, und letztendlich können Milliarden, nicht nur Millionen von Leben auf dem Spiel stehen.
Falls wir uns entschließen, von der Klippe zu springen, brauchen wir einige Daten als Information hinsichtlich der Logik einer solchen Maßnahme und hinsichtlich der Chancen irgendwo sicher zu landen.
John P.A. Ioannidis is professor of medicine, of epidemiology and population health, of biomedical data science, and of statistics at Stanford University and co-director of Stanford’s Meta-Research Innovation Center
Übersetzt von Chris Frey EIKE