Ein Jahr nach dem Blackout in Berlin-Köpenick
Am frühen Nachmittag des 19. Februar 2019 beschädigen Brückenarbeiten in Berlin-Köpenick eine Hauptstromleitung. Erst kurz vor 22 Uhr des folgenden Tages, nach mehr als 31 Stunden, fließt der Strom wieder. Bis dahin sind 32.000 Haushalte, 2.000 Gewerbetreibende und die DRK-Kliniken ohne Strom. Sofort nach dem Ausfall springt im Krankenhaus automatisch das Notstromaggregat an, das allerdings nur den Betrieb für die essenziellen Systeme aufrechterhalten kann. Wie das Leben so spielt, fällt es nach mehreren kurzen Aussetzern bereits nach gut sieben Stunden komplett aus – trotz korrekt durchgeführter Wartungen – und wird durch ein externes THW-Notstromaggregat ersetzt.
In Deutschland müssen die Krankenhäuser für ihr Notstromaggregat einen Dieselvorrat für mindestens 24 Stunden vorhalten. Kann bis dahin kein weiterer Kraftstoff geliefert werden, wird es zappenduster. Ob im Ernstfall wirklich rechtzeitig ein Tankwagen am Krankenhaus eintrifft, dürfte wesentlich vom räumlichen Ausmaß des Blackouts abhängen. Aber auch eine funktionierende Notstromversorgung hat meist nicht die erwartete Schutzfunktion. Erst während des Ernstfalls wird den Beteiligten klar, was alles nicht mehr funktioniert.
Außer dem Strom fällt im Köpenicker Krankenhaus auch die Fernwärmeversorgung aus. Anschließend scheitert der Versuch, mit Hilfe einer mobilen Heizstation Heißwasser in das Wärmenetz des Krankenhauses zu pumpen. Der Grund: nicht beherrschbare hydraulische Probleme. Zum Glück – eine Folge des Klimawandels? – liegen die Tagesmitteltemperaturen immerhin zwischen 6 und 7 Grad. Sonst wäre es für Patienten und Mitarbeiter rasch noch deutlich unangenehmer geworden.
Der Blackout führte im Köpenicker Klinikum neben den bereits erwähnten natürlich noch zu weiteren Problemen, etwa dem weitgehenden Zusammenbruch der internen und externen Kommunikationssysteme. Glücklicherweise blieben die Auswirkungen dieses Blackouts insgesamt recht begrenzt. Denn im Vergleich zu anderen Vorfällen dieser Art herrschten günstige äußere Umstände – namentlich die Lage am Rande einer nicht vom Blackout betroffenen Großstadt. Folglich gab es für Patienten und Rettungsfahrzeuge nicht nur mehrere gut erreichbare Ausweichkrankenhäuser, sondern in den benachbarten Stadtteilen auch niedergelassene Ärzte und funktionierende Apotheken.
Im betroffenen Köpenicker Stadtgebiet funktionierte bereits nach kurzer Zeit im Gesundheitssektor – außer dem auf Sparflamme laufenden Krankenhaus – nichts mehr. Der eine oder andere nicht auf apparative Diagnostik angewiesene niedergelassene Arzt mag zwar vielleicht noch bis zum Einsetzen der Dunkelheit irgendwie seine Sprechstunde über die Bühne gebracht haben – spätestens dann war aber Schicht im Schacht. Lediglich Dialyseeinrichtungen können mit Hilfe von Akkumulatoren einen Stromausfall für etwa zwei Stunden überbrücken. Arztpraxen verfügen in aller Regel nicht über solche Vorrichtungen. Apotheken dagegen, genügend Tageslicht vorausgesetzt, können den Betrieb in Einzelfällen etwa noch drei Stunden aufrechterhalten, wenn sie über einen Akku für ihren Server verfügen.
Vermehrte Unfälle nach einem Blackout
Ist vom Blackout ein deutlich größeres Gebiet betroffen als bei dem Köpenicker Ereignis oder sind aus anderen Gründen die nächstgelegenen Einrichtungen des Gesundheitssystems weit entfernt oder schwer erreichbar, wird das Krankenhaus bereits während der ersten Stunde nach Beginn des Stromausfalls in seinem Einzugsbereich für alles Medizinische zuständig sein. Erschwerend kommt hinzu, dass besonders die Zeit unmittelbar nach Beginn des Stromausfalls sehr unfallträchtig ist. Das Krankenhaus muss sich also auch noch um eine überdurchschnittliche Zahl von Unfallopfern kümmern. Hält die Stromunterbrechung in der kühlen Jahreszeit länger an, kommt es im betroffenen Gebiet erfahrungsgemäß zu etlichen Kohlenmonoxid-Vergiftungen, da die Bürger mit allen möglichen Gerätschaften versuchen, ihre Wohnung oder zumindest ein Zimmer zu heizen.
Ganz schwierig kann es werden, wenn – was zwar nicht in Köpenick, aber ansonsten nicht selten der Fall ist – die Ursache des Stromausfalls ein Extremwettereignis wie Sturm, Überschwemmung oder starker Schneefall ist. Dadurch kommt es häufig zu zahlreichen Verletzten, und manchmal nimmt die Klinik gar selbst Schaden. In solchen Situationen den medizinischen Anforderungen auch nur halbwegs gerecht zu werden, wird mit zunehmender Dauer des Blackouts rasch immer schwieriger – wegen der stetig voranschreitenden Erschöpfung von Mensch und Material.
Im stark arbeitsteilig organisierten deutschen Gesundheitssystem wird es – in Abhängigkeit von Dauer und Größe des Blackouts – rasch zu einem Mangel an Vielem kommen, besonders von Blutprodukten, Insulin und Spezialernährungen. Die Krankenhausküche bleibt ohnehin kalt, aber darüber hinaus deckt die Notstromversorgung auch nicht die Kühlung der Lebensmittel und aller Medikamente ab. Im deutschen Februar ist das zunächst kein so großes Problem, aber im Sommer kann das rasch anders aussehen. Doch nicht nur Essen und Medikamente, sondern auch anderes, vor allem steriles Verbrauchsmaterial, wird zusehends knapp.
Spätestens nach einigen Tagen gibt es auch keine frische Bettwäsche mehr, und überhaupt hat der hygienische Standard in Ermangelung von genügend Reinigungskräften bei problematischer Müllentsorgung bereits deutlich gelitten. Hätte der Stromausfall in Köpenick etwas länger gedauert, wäre es auch zu Problemen mit der Abwasserentsorgung gekommen. Die Auswirkungen mag man sich lieber nicht vorstellen. Genauso wenig wie die Variante, dass der Wasserversorger das lebensnotwendige Elixier wegen Pumpenausfalls nicht mehr liefern kann.
Zusätzliche Todesfälle
Aufgrund der zusammengebrochenen Kommunikationssysteme ist es schwierig bis unmöglich, dringend benötigte, außerplanmäßige Arbeitskräfte zu mobilisieren. Handelt es sich um einen großräumigen Blackout, werden aber auch viele Arbeitskräfte ihren regulären Dienst im Krankenhaus nicht antreten können. Sei es, weil der öffentliche Nahverkehr nicht funktioniert, sei es, weil sie ganz mit dem Kampf ums eigene Überleben beschäftigt sind.
Als im Köpenicker Krankenhaus das Notstromaggregat zu stottern anfing, entschloss sich die Krankenhausleitung, 23 Patienten der Intensivstation vorsichtshalber zu evakuieren. Eine Aktion, die natürlich viele Ressourcen band und darüber hinaus zusätzliche, in dem Ausmaß wohl nicht erwartete Anforderungen an das Personal nach sich zog: Viele der zurückbleibenden Patienten fühlten sich verlassen und aufgegeben, reagierten dabei verunsichert und ängstlich oder auch fordernd, teils gepusht von den Angehörigen. Auch hier war das ja ohnehin schon überforderte Personal in besonderer Weise zusätzlich beansprucht, um Patienten und Angehörige zu beruhigen.
Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, dass ein solcher Notfallbetrieb nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden kann. In der informativen Schrift Was bei einem Blackout geschieht – vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag – heißt es dazu ganz nüchtern:
„Innerhalb einer Woche verschärft sich die Situation des Sektors derart, dass trotz eines intensiven Einsatzes von regionalen Hilfskapazitäten vom völligen Zusammenbrechen der medizinischen und pharmazeutischen Versorgung auszugehen ist“ – einhergehend mit einer „Häufung von Todesfällen“.
Ob auch der – ja relativ kleinräumige – Köpenicker Blackout bereits zu einer Häufung von Todesfällen geführt hat, wurde nicht untersucht oder zumindest nicht veröffentlicht. Während des großen Blackouts in Nordamerika Mitte August 2003 gingen auch in New York – bei moderaten Sommertemperaturen – die Lichter aus, teils nur für einige Stunden, teils auch über mehr als 24 Stunden. Während dieser Zeit nahm in New York die Sterberate um 28 Prozent zu, was neunzig zusätzlichen Todesfällen entspricht. Ursächlich dafür waren auch die durch den Blackout eingeschränkten Rettungs- und Transportmöglichkeiten.
Da Deutschland in puncto Verlässlichkeit der Energieversorgung sich künftig vielleicht besser nicht mehr mit solchen Ländern wie den USA vergleichen sollte, sei hier auch eine Studie aus Ghana erwähnt. Dort kommt es häufig zu Unterbrechungen der Stromversorgung, und erwartungsgemäß gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Stromausfall und Sterberate in den betroffenen Krankenhäusern: An jedem Tag mit einer länger als zwei Stunden währenden Stromunterbrechung steigt dort die Sterberate um durchschnittlich stattliche 43 Prozent.
Zum Abschluss noch ein Tipp aus präventivmedizinischer Sicht: Sollte bei Ihnen, lieber Leser, ein Krankenhausaufenthalt absehbar sein wegen einer zwar notwendigen, aber nicht dringlichen Operation, lassen sie sich einweisen, bevor Ende 2022 auch die drei letzten Kernkraftwerke vom Netz gehen werden, besser noch ein Jahr früher.
Wolfgang Meins
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.
Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier
Weiterführende Infos: Innensenator: Bezirke nicht auf Katastrophenfall vorbereitet