Shunichi Yamashita empfängt mich in seinem Haus, in den dicht bewaldeten Hügeln über Nagasaki. Die Aussicht ist betörend: Ein pulsierender Hafen, gesäumt von der Hirado-Hängebrücke, die sich elegant über die Bay schwingt, dahinter die vorgelagerten Inseln. Nagasaki ist eine wohlhabende, moderne und brummende Stadt. Fast im Tagesrhythmus schwemmen Luxuskreuzer am Quai des alten Hafenviertels Dejima Scharen von Touristen aus China, Korea und Taiwan an Land, die sich jeweils schnell in den Einkaufspalästen der Stadt verlieren. Die liebevoll restaurierten Straßenbahnen und die katholische Urakami-Kathedrale erinnern an vergangene Zeiten, in denen Nagasaki fast exklusiv für ganz Japan das Tor zur Welt war.

Ground Zero, das Epizentrum der Atombombe, die am 9. August 1945 mit einem Schlag gegen 70000 Menschen getötet und einen großen Teil der Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt hatte, liegt direkt zu unseren Füssen. Als Yamashita 1952 hier geboren wurde, waren noch nicht alle Trümmer weggeräumt. In den Ruinen der Urakami-Kathedrale, keine 500 Meter vom Ground Zero entfernt, wurde er auf den klangvollen Namen Buenaventura getauft. Auch die Universitätsklinik von Nagasaki, wo Professor Yamashita einst seine Studien begann und wo er heute lehrt, lag in der unmittelbaren Todeszone. Es ist, als drehte sich sein ganzes Leben um Ground Zero.

Yamashitas hetten einen »kleinen Imbiss« für mich vorbereitet. Das hieß: wir verbrachten den ganzen Nachmittag mit dem Kosten einer Vielfalt von raffiniert zubereiteten Häppchen, an deren Namen ich mich nicht entsinnen will, von denen jedes seine Geschichte hatte und eines besser schmeckte als das andere. Mit zu Tisch saß eine hoch betagte aber immer noch wache und liebenswürdige Frau: Haru Yamashita, die Mutter des Professors.

Haru war damals, als Major Sweeney von der 393 Bombardement Squadron 9000 Meter über ihrem Kopf den Befehl zum Abwurf der Atombombe erteilte, sechzehn Jahre jung und ging ans Gymnasium. Sie saß zu Hause, knapp drei Kilometer vom Ground Zero entfernt, in ihrer Stube. Haru schaute gerade aus dem Fenster, als der wolkenverhangene Himmel plötzlich gleißend hell wurde, »so als wäre die Sonne explodiert«.

Sie habe einfach nur Glück gehabt, sagt die Frau mit einem Lächeln: »Ich war stärker als die Bombe«. Es gab Nachbarn, die den Angriff nicht überlebten. Haru erlitt bloß geringfügige Schäden durch herumfliegende Glassplitter. Der Urakami-Hügel, an dessen Westflanke sich ihr Elternhaus befand, bot etwas Schutz.

Als Haru nach den Sommerferien an ihre Schule zurückkehrte, so erzählt sie, fehlte die Hälfte der Mitschüler und der Lehrer. Sie kamen nie wieder. Zur Trauer gesellte sich der Hunger. Es vergingen Monate, bis die Versorgung mit dem Nötigsten wieder einigermaßen funktionierte. In der Not habe man das Kraut der Kartoffeln gegessen, erinnert sich die mittlerweile 88-jährige Frau, eine Orangenschale sei schon fast ein Luxus gewesen. Von der Strahlengefahr habe man zwar gewusst, doch diese sei damals noch kein großes Thema gewesen. Dass ihre Mutter auf dem Schwarzmarkt ihren schönen Kimono gegen Essen eintauschte, habe ihr mehr Kummer bereitet.

Die Strahlung zeitigte auch für Haru Yamashita und ihre Familie verheerende Folgen, allerdings ganz anders, als man es sich gemeinhin vorstellen würde. 1951 heiratete die junge Frau in den Ruinen der katholischen Urakami-Kathedrale, wo sie ein Jahr später ihren Erstgeborenen Shunichi auf den Namen Buenaventura taufte. Ihren Mann hatte sie zuvor sechs Jahre lang nur heimlich getroen. Bis sie schwanger wurde. Beide Familien sträubten sich gegen die Liaison. Denn Haru war eine Hibakuscha, eine Überlebende der Atombombe. Es hieß, sie würde bald an Krebs sterben. Und vor allem: Verstrahlte Frauen würden Krüppel und Monster gebären.

Haru Yamashita war kein Einzelfall. Sie ist eine von insgesamt 650.000 oziell anerkannten Hibakusha. Jahrelang wurden die Überlebenden der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki geschnitten wie Aussätzige. So als wäre Strahlung etwas Ansteckendes. Die Überlebenden wurden nicht nur auf dem Hochzeitsmarkt gemieden. Niemand wollte das Risiko eingehen, jemanden einzustellen, der womöglich krank war und bald an Krebs sterben würde.

Bereits 1957 erließ das japanische Parlament ein Gesetz, das den Hibakusha im Sinne einer Wiedergutmachung Privilegien bei der Krankenversicherung und bei den Renten einräumt. Doch erst im Verlauf der 1960er Jahre wurde einer breiten Öentlichkeit das Unrecht allmählich bewusst, welches man den Überlebenden angetan hatte. Die Diskriminierung der Hibakusha war nicht nur moralisch abstoßend, sie war auch sachlich unbegründet.

Das lässt sich mit einer einfachen Rechnung belegen. Im Frühling 2017 gab es in Japan immer noch 164.621 Hibakusha. Mit anderen Worten: 72 Jahre nach den Bombenabwürfen lebten rund ein Viertel der Registrierten immer noch. Japaner haben weltweit die höchste Lebenserwartung. Doch bei den Hibakusha liegt sie statistisch sogar leicht über dem Landesschnitt.

Wie ist das möglich? Was ist mit der Strahlung? Mit der auf Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte hinaus kontaminierten Erde? »Was mich nicht umbrachte, hat mich stärker gemacht«, entgegnet mir Haru. Das Lächeln in ihren Augen hat sich nun in Spott verwandelt.

Professor Shunichi Yamashita widerspricht. So könne man das nicht sagen. Er vermutet, dass die bevorzugte medizinische Betreuung und der bessere Lebensstandard einen positiven Effekt auf die Lebenserwartung der Hibakusha gezeitigt hat. Beweisen lässt sich das allerdings nicht. Gemäß Yamashita ist das nur eine Vermutung.

Aber das Krebsrisiko? All die angeblichen Fälle von Leukämie?

»Gemäß den Langzeitstudien des Atomic Bomb Disease Institute in Nagasaki kann nur ein Prozent der Todesfälle unter den Hibakusha mit den Langzeitfolgen der Atombombe in Verbindung gebracht werden. Die theoretische Erhöhung des Krebsrisikos lag unter einem Promille, statistisch lässt es sich aber nicht nachweisen. Dies deckt sich mit den Erfahrungen und meinen Forschungen in Hiroshima und später in Tschernobyl. Das gilt mittlerweile als wissenschaftlich gesichert

Aber all die Fehlgeburten und schrecklichen Missbildungen bei Neugeborenen?

»Das ist ein Hoax. Eine Zunahme von Missbildungen bei Säuglingen konnte nie nachgewiesen werden. Eine potentielle Gefahr war schon früher bekannt, von Röntgenaufnahmen. Sie besteht aber nur in seltenen Fällen und in einer sehr frühen Phase der Schwangerschaft.«

 Aber die Fotos von verkrüppelten Tschernobyl-Kindern, die um die Welt gingen?

»Es gab diese Missbildungen vor den atomaren Katastrophen in Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl, es gab sie nachher. Eine Veränderung lässt sich statistisch nicht erkennen.«

Und die auf Jahrzehnte, ja vielleicht auf Jahrhunderte verseuchten und verstrahlten Landschaften?

Hinweis: Zum Thema habe ich ein Buch geschrieben mit dem Titel „Der Fluch des Guten“

In Deutschland erhältlich hier und in der Schweiz hier.

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