Quo vadis, demokratische Gesellschaft?
Nach Friedrich v. Hayeks Modell der Erweiterten Ordnung hat sich die menschliche Gesellschaft einerseits spontan und selbstorganisiert als Folge der sozialen Interaktionen der Menschen untereinander entwickelt und ist andererseits als geplante soziale Organisation ein Ergebnis ihrer geistigen Fähigkeiten. Obwohl sich auch eine geplante Organisation, soweit sie nicht durch den Einfluss von Ideologien und Machthabern daran gehindert wird, selbstorganisiert weiterentwickelt, sind es vor allem die geistigen Fähigkeiten der Menschen, die die Entwicklung der Gesellschaft voranbringen (aber auch stagnieren lassen oder sogar zurückwerfen), und damit einen dramatischen Paradigmenwechsel in der Evolution verursacht haben.
Die Menschen sind die Elemente der kollektiven Selbstorganisation in der Gesellschaft. Sie sind in dieser Rolle nicht allwissend, sondern von begrenzter Rationalität. Sie sind aber auch die Gestalter der Regeln und Gesetze, die die sozialen Wechselwirkungen bestimmen, sowie die Gestalter der Kultur ihrer Gesellschaft.
Die Dynamik der Gesellschaft ist deshalb und aufgrund ihrer internen Rückkopplungen und anderer nichtlinearer Zusammenhänge sehr komplex, vergleichbar mit einem System gekoppelter autokatalytischer Prozesse. Ihre übergeordnete Struktur (vgl. Grafik) besteht aus einer Makro- und einer Mikroebene, die miteinander wechselwirken. Ihre dynamischen Gleichgewichte werden durch Attraktoren beschrieben. Dynamische Gleichgewichte – von Josef Reichholf auch stabile Ungleichgewichte genannt – sind aufgrund der beteiligten Rückkopplungen stabiler als die gewohnten statischen Gleichgewichte.
Die Kultur einer Gesellschaft ist als sog. Ordnungsparameter für die Prozesse und dynamischen Gleichgewichte der Soziodynamik sehr einflussreich. Von großer Bedeutung ist dabei die Weltanschauung. Weltanschauungen werden während der individuellen Entwicklung erworben, sie sind nicht angeboren. Eine Weltanschauung umfasst eine Vielzahl von Einflussfaktoren oder Antagonisten, die wie beim bekannten Prinzip von Yin und Yang als miteinander verbundene, dynamisch gegenläufige Abhängigkeiten wirken. Beispiele für Antagonisten in der Gesellschaft sind Freiheit und Verantwortung, Freiheit und Bevormundung, Pluralismus und Zentralismus, und in der Ökonomie Stakeholder Value und Shareholder Value sowie Rendite und Risiko. Sind die wichtigen Antagonisten einer Weltanschauung im Gleichgewicht, so ist sie insgesamt ausgewogen und ihr Einfluss auf die Soziodynamik ist neutral. Die Prozesse der Soziodynamik können dann selbstorganisiert, pluralistisch und im stabilen dynamischen Gleichgewicht in der Nähe ihrer sog. Attraktoren ablaufen.
Sind wichtige Antagonisten einseitig vorgegeben, so ist die Weltanschauung als Ideologie anzusehen. Unter dem Einfluss einer Ideologie als Ordnungsparameter sind die Prozesse der Soziodynamik nicht stabil, weil sie weit entfernt von den Attraktoren ablaufen müssen. Damit die Soziodynamik nicht entgleist, sind ständig Eingriffe „von außen“ notwendig, von der Regierung oder Institutionen wie der EZB, die die Ideologie aufrechterhalten wollen. Beispielsweise wurden die Dogmen der katholischen Kirche im Mittelalter durch die Inquisition und durch unmenschliche Strafen wie Hexenverbrennungen gewaltsam aufrechterhalten. Aktuelle Beispiele für Ideologien sind die einseitige und spekulative Hypothese von der Klimaerwärmung durch einen von der Industrialisierung verursachten Treibhauseffekt, ohne dabei den 1000-jährigen Rhythmus der Warmzeiten und kleinen Eiszeiten aufgrund der Änderung der Sonnenaktivität zu berücksichtigen, der das Wachstum und das Abschmelzen der Alpengletscher verursacht. Ein anderes Beispiel ist das ideologische Syndrom der Sozialromantik, durch das eine gravierende Einschränkung der Verantwortung der Bürger sowie der Institutionen bis hin zu den Staaten erzwungen und der öffentlichen Debattenraum (Rainer Mausfeld) massiv beschränkt wird. Außerdem werden von den westlichen Industriestaaten aufgrund der Ideologie des extremen Neoliberalismus mit massiven staatlichen Eingriffen in das Finanzsystem und den Missbrauch der Globalisierung die liberalen, selbstorganisierten und pluralistischen Märkte weitgehend außer Kraft gesetzt.
Das Abendland war und ist bis in die Neuzeit primär von Ideologien wie den monotheistischen Religionen, dem Kommunismus, dem Nationalsozialismus, und in den letzten Jahrzehnten von dem extremen Neoliberalismus und diversen sozialromantischen Wunschvorstellungen geprägt worden. Das ist offenbar eine Folge seiner abrahamitischen religiösen Vergangenheit und der Denkgewohnheit der unversöhnlichen Gegensätze von Antagonisten. Die Realität der Gesellschaft wurde und wird mit Gewalt in ein „Prokrustesbett“ (Gerhard Szczesny) gezwängt, das von den jeweiligen Ideologien vorgegeben wird. China und andere Länder Ostasiens waren und sind weniger von Religionen, sondern mehr von Staatsphilosophien wie dem Konfuzianismus geprägt, die ohne fest zementierte göttliche „Verkündigung“ weitgehend empirisch aus der Realität der Gesellschaft entstanden sind und immer wieder an deren Realität angepasst werden. Kultur und Weltanschauungen werden dort seit über 2000 Jahren stärker durch dynamische Gleichgewichte wie Yin und Yang beeinflusst.
Durch die Erfindung der Landwirtschaft vor etwa 10 000 Jahren hat sich die Lebensgrundlage großer Teile der Menschheit um einen Faktor 10 verbessert, und durch die Industrialisierung nochmal um einen Faktor von etwa 30. Vergleichende Feldforschungen haben ergeben, dass symbiotisch und pluralistisch organisierte menschliche Gesellschaften und Institutionen innovativer und den extraktiven, schmarotzend organisierten Gesellschaften langfristig überlegen sind. Das gilt insbesondere dann, wenn größere Innovationen stattfinden (sog. schöpferische Katastrophen). Die Soziale Marktwirtschaft der BRD ist einer ausgewogenen Weltanschauung mit angemessenen Regeln nahegekommen, wurde aber ab den 1968er Jahren gesellschaftlich zunehmend durch eine realitätsfremde Sozialromantik und ab den 1980er Jahren ökonomisch durch den extremen Neoliberalismus verdrängt.
Beispiele wie die künstlerische Arbeitsweise einer Jazzband oder die integrative, lösungsorientierte Arbeit eines Fachteams können als einfache Modelle für einen Prozess der erfolgreichen innovativen Zusammenarbeit von einzelnen Menschen in einer Gemeinschaft dienen und gleichzeitig die Bedeutung der sozialen Regeln für ihren Erfolg veranschaulichen. Die Unternehmen der Realwirtschaft sind i.d.R. deutlich besser organisiert und geführt als jeder Staat. Der Vergleich verschiedener moderner Staaten legt nahe, dass für den Wohlstand der Bürger die Organisation und der wirtschaftliche Erfolg der wertschöpfenden Betriebe und Unternehmen eines Staates wichtiger sind als seine politische Organisation. Große Bereiche des Staates, der gegenwärtigen Finanzwirtschaft sowie die Sozialromantiker und ihre Klientel sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu Schmarotzern der Realwirtschaft geworden.
Die Demokratien könnten nach Emerich Sumser „… ein ultimativer Kompromiss zwischen einem egalitären Ideal und einer hierarchischen Realität“ sein. Die Untersuchungen zur kollektiven Intelligenz liefern aber neben bekannten, etwas oberflächlichen Begründungen „pro“ Demokratie auch gewichtige Begründungen „contra“. Unter dem Diktat der regierenden Parteien und den von ihnen kontrollierten Massenmedien hat sich die BRD in den letzten Jahrzehnten zu einer defekten Demokratie (Walter Merkel) wie die der DDR entwickelt, und die EU zu einem noch weniger demokratischen, von einer Nomenklatura beherrschten Staats- und Finanzapparat, vergleichbar zu dem der UdSSR.
Mit den modernen Massenmedien, insbesondere dem ÖRR-Fernsehen, können Ideologien unauffälliger, aber sehr viel wirkungsvoller als in der Vergangenheit propagiert und im Sinne von „Propaganda, Brot und Spielen“ durchgesetzt und aufrechterhalten werden. Reizüberflutung, ideologisch orientierte Desinformation und der Missbrauch von Gefühlen („Instinkten“) sind dabei die Mittel der Wahl, um die Bürger politisch zu kontrollieren, ruhig zu stellen und weitgehend zu entmündigen. Dabei wird die Eigenverantwortung der Bürger zunehmend durch eine Art Staatsindividualismus wie in Schweden ersetzt, bei dem Strukturen wie die Familie weitgehend abgeschafft und ein allgemeines Anspruchsdenken „aller an alle anderen“ gefördert wird.
In der BRD gibt es seit den 1968er Jahren den Trend, Macht und Zuständigkeiten des Staates mit Unterstützung der Massenmedien immer mehr auszudehnen. Dadurch werden die meisten Bürger weltanschaulich und als Individuen im Zustand von Untertanen gehalten. Dieser staatliche Einfluss reicht inzwischen von der Kita über die Erziehung und Ausbildung bis zu lebensbegleitender ideologischer Propaganda, Desinformation und allgemeiner Reizüberflutung durch die Massenmedien. Diese haben sich nicht wie erhofft zur Vierten Gewalt, sondern zu Propagandawerkzeugen der herrschenden Parteien und ihrer Ideologien entwickelt. Erst mit Internet und PC ergeben sich wieder Chancen auf mehr Pluralismus und mehr Dialoge in der Vermittlung von Wissen und für einen angemessenen Debattenraum.
Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung und ihren zunehmend komplexen Produkten, Systemen und Fertigungsprozessen entwickelte sich die Arbeitsteilung schon seit Jahrzehnten weiter zur Arbeit an Systemen mit dem Schwerpunkt der Zusammenarbeit im Team. Damit werden organisatorische Aufgaben immer wichtiger, ebenso wie das dafür erforderliche Denken in Systemen. Da auch die Gesellschaft sehr viel komplexer geworden ist, geht es auch hier nicht nur um ein statisches Verständnis der Gesellschaft und der dabei verwendeten Begriffe, sondern um reale Strukturen, Prozesse, Rückkopplungen und dynamische Gleichgewichte. Die Gesellschaft kann letztlich nur aufgrund der Kenntnis ihrer dynamischen, rückgekoppelten und nichtlinearen Prozesse verstanden werden. Deshalb ist ihr Management mehr eine Aufgabe für Naturwissenschaftler und Techniker, die mit Komplexität umgehen können, und weniger für literarisch gebildete Intellektuelle (John Brockman) und Berufspolitiker, die auf ihre Wiederwahl fokussiert sind.
Auf Basis des Modells der dynamischen Antagonisten und Gleichgewichte kann man Hayeks Erweiterte Ordnung weiterentwickeln. Die Weiterentwicklung berücksichtigen nicht nur Freiheit, Vernunft und die gegenwärtigen diffusen Menschenrechte, sondern die Gesamtheit aller sozialen Interaktionen und ethischen Regeln, die ein faires, optimales und nachhaltiges Zusammenleben der Menschen im Rahmen eines Staates und der Institutionen seiner Gesellschaft sowie der Staaten als weltweite Gemeinschaft angemessen gewährleisten können. Eine wichtige Rolle spielen dabei Strukturen, Grenzen und dadurch mögliche, hierarchisch strukturierte Verantwortungen (sog. Subsidiarität). Die Basis dafür muss eine gewissenhaft vorbereitete politische Kultur sein, soweit wie möglich auf der Grundlage eines natur- und erfahrungswissenschaftlichen Wissens wie dem des Ontologischen Naturalismus. Erste weltweit gültige Prozesse und Regeln wie die der naturwissenschaftlichen Arbeitsmethode oder die des Fußballspiels deuten an, dass weltweit gültige Regeln zumindest „im Prinzip“ möglich wären.
Ausgehend von dem Modell der Erweiterte Ordnung und dem Stand der aktuellen westlichen Gesellschaft werden in dem unten genannten Buch u.a. folgende Probleme behandelt, zusammen mit Lösungsansätzen dafür: Der Einfluss von Ideologien auf die Soziodynamik, die Rolle der Parteien, die Rolle Medien und der Desinformation, die Defekte der Demokratie, der Nutzen des Kapitalismus, die begrenzte Anwendbarkeit des freien Marktes, der Missbrauch der Finanzsysteme, der Missbrauch der Globalisierung, der Schwund der Verantwortung, der Missbrauch von Instinkten und die schleichende Entmündigung der Bürger. Mit der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise ist es möglich, Modelle und Konstruktionsregeln für die Gesellschaft zu entwickeln, die nicht der Beliebigkeit der Politik und der literarisch gebildete Intellektuelle unterworfen sind.
Das Buch ist weitgehend allgemein verständlich geschrieben; die wenigen Ausnahmen davon sind als Exkurse gekennzeichnet. Die Lektüre des weitgespannten Stoffs wird durch ein Glossar unterstützt, das die wichtigsten Begriffe kurz erklärt.