BLACK OUT – eine ökosozialistische Dystopie
Um mich herum Vogelgezwitscher in allen Tonlagen.
„Seltsam so laut habe ich es noch nie gehört“, murmle ich vor mich hin.
Vom azurblauen Himmel scheint die Sonne gleißend hell und kleine Wolken ziehen langsam dahin. Ein Paar Rot Milane schreit sich hochtönend die Entdeckungen zu. Um mich vor dem grellen Licht zu schützen, halte ich eine Hand vor meine Augen und sehe ihnen durch die Finger bei ihren beschwingten Schleifen eine Weile zu. Etwas brummt eindrücklich am Ohr vorbei. Eine Riesenhummel schwenkt wie ein kleiner Helikopter schaukelnd Richtung Wiese ein. Deutlich sehe ich ihre gelben Bänder auf dem tiefschwarzen Körper.
Erst jetzt bemerke ich das Brummen und Summen um mich herum. Die Luft ist erfüllt von geschäftigen Insektentreiben. Sie stürzen sich auf das Blütenmeer der Wildblumen. Roter Mohn, weiße Margeriten, blaue Ackerblumen, Klee, viele die ich nicht kenne. Ein gelber Käfer mit schwarzen Streifen groß wie ein Fünf-Mark-Stück droht mich an.
„Haha, Fünf-Mark-Stück“ wie komme ich jetzt bloß darauf.
Gemütlich schlendernd gehe ich weiter. Irgendwie fühle ich mich beschwingt und schreite aus. Die Pflanzen, die Insekten – alles wirkt vergrößert, satt, grell wie in einem Fernseher mit zu viel Farbkontrast. Direkt am Weg steht eine Gruppe Rehe und schaut mich aus samtschwarzen Augen an. Ohne Furcht senkt eines seinen Kopf, um weiter zu äsen.
Unter einer großen Eiche, die ihre gewaltige Krone beschützend ausbreitet, sehe ich Holzkreuze, ich laufe hin und bleibe stehen. Erst jetzt bemerke ich die Feldsteine, die zu ihren Füßen aufgeschichtet wurden. Überwachsen von Moosen und Wildkräutern. Die Kreuze sind verwittert und einige neigen sich schon. Man kann nur erahnen, dass auf ihrem Querholz mal Buchstaben und Zahlen standen. Vom vergangenen Tod kündend wollen sie nicht so richtig in eine Landschaft passen, die vor Leben über zu quellen scheint. Bleiern kriecht Betroffenheit in mir hoch. Langsam gehe ich rückwärts und schwenke wieder auf den Feldweg ein.
Leises Plätschern kündet einen nahen Bach an. Links sehe ich langbeinige Pferde. Ihre grazilen Köpfe drehen sich nach mir um. Leise schnaubend nehmen sie mich zur Kenntnis. Auch sie passen nicht so richtig hierher. Eher auf eine Rennbahn, denke ich. Einige von Ihnen haben Zaumzeug um.
Der Weg beschreibt eine Kurve und als ich sie umrundet habe, steht plötzlich eine hölzerne Karre vor mir. In ihr liegen Kartoffeln und Weizenähren sowie Maiskolben. Auch sie sind übergroß. Kartoffeln, Weizen zu dieser Jahreszeit? Verwirrt schüttle ich langsam meinen Kopf. Seltsam!
Ich blicke mich um.
Da entdecke ich am Bach eine menschliche Gestalt. Sie dreht mir ihren nackten männlichen Rücken zu und schöpft Wasser aus dem sprudelnden Bach.
Plötzlich stürzen laut bellend riesige dunkle Tiere auf mich zu, gefolgt von einer Horde kleiner kläffender Felltiere mit wedelnden Ohren. Erschrocken bleibe ich stehen. Die Gestalt dreht sich zu mir um. Wilde, lange, ergraute Haare und ein ebenso zotteliger Bart schauen zu mir herüber. Ein Arm geht hoch und er ruft etwas.
Zwei Hundemonster bremsen vor mir und bringen sich in Stellung. Eines von ihnen streckt seinen Kopf zu mir vor. Er ist auf Brusthöhe. Die riesige Nase erkundet unaufgeregt meine Kleidung, während seine kleinen Freunde mich umkreisen und einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalten.
Der Mann winkt zu mir herüber. Seine Gesten bedeuten mir, zu ihm zu kommen.
Langsam setze ich mich in Bewegung. Die Hundeschar folgt mir argwöhnisch.
„Keine Angst, die tun nichts!“, höre ich eine kräftige Stimme.
Klar, der übliche Spruch der Hundehalter. Ob die das auch wissen? Denke ich und lasse die Viecher nicht aus den Augen.
Wir kommen näher. Er weist auf einen Baumstamm und lädt mich zum Hinsetzen ein. Der Mann setzt sich mir gegenüber auf einen Stein. Mund und die Augen werden von einem Delta von Fältchen eingerahmt. Die Haut ist braun gebrannt, sieht fast gegerbt aus und große Hände, die lässig über Knien gekreuzt sind, erzählen von dauernder Handarbeit. Seine Hose besteht aus einem undefinierbaren Stoff von einer eher grauen Farbe. Die Schuhe sind grob und klobig, scheinen aber alle Belastungen auszuhalten. Trotz des unverkennbaren Alters ist der Eindruck drahtig und kraftvoll.
„Lange keinen mehr hier draußen gesehen“ sagt er sichtlich froh, mich hier zu treffen.
Ich reiche ihm die Hand, die bereitwillig kräftig geschüttelt wird. Die Hundemeute scheint besänftigt und lässt sich hechelnd im Gras nieder. Ein blechernes Trinkgefäß mit kühlem Wasser wird mir gereicht.
„Nur mal so spazieren“ sage ich und nicke dankend.
Ein Lächeln zerreißt das Bartdickicht und ich werde freundlich gemustert.
Auf den Karren deutend sage ich: „Sind die Kartoffeln jetzt schon reif… und der Weizen?“
Verwunderter Blick: „Ja klar, ernte ich zweimal im Jahr, zumindest das, was das Viehzeug übrig lässt!“
Erst jetzt bemerke ich, dass es gar keine Wiese ist, sondern eine Art Feld. Zwischen den wilden Blumen und Gräsern wachsen Getreide und Kartoffeln. Weiter hinten stehen gewaltige Maispflanzen.
„Und die Pferde…“ frage ich.
„Sind wahrscheinlich mal aus einem Rennstall abgehauen, wie die Rinder und Schafe. Leben fast wild.“ Erzählt er ruhig.
Mein Arm geht hoch und ich zeige auf die Krone der Eiche im Hintergrund.
„Was ist passiert?“
Erstaunte Augen sehen mich an. „Sie kommen wohl von weiter weg?“
Ich nicke.
„Na damals der Black Out!“ Es klingt eindringlich.
Merke, wie ich meinen Kopf fragend hin u. her bewege.
Seine große Hand fährt übers Gesicht. Er wird ernst. Sein Blick geht nach unten. Immer noch erstaunt über mein Nichtwissen, fängt er an zu erzählen.
„Ich habe sie alle begraben… meine Kinder, meine Nachbarn. Weiß nich, wo meine Frau liegt. Sie war damals in der Stadt…“ Er bricht ab und schaut sich um. Dem Blick folgend, drehe auch ich mich um.
Ohne es zu merken, haben Rinder uns umringt, dazwischen laufen Schafe und Ziegen. Einige liegen und käuen wieder, andere schauen gelangweilt zu uns herüber.
„Sie suchen unsere Nähe.“ Wieder ungläubiges Staunen wegen meines fragenden Blickes.
„Wegen der Wölfe und so, haben sich ganz schön vermehrt“
„Wölfe…?“ Ich muss an mein unbeschwertes Schlendern von vorhin denken.
„Ja, wir haben hier alles Mögliche… Bären, Pumas, Leoparden…“
Dann zeigt er auf die Hundemeute. „Die passen auf und das wissen die!“
Wieder blickt er zu Boden und scharrt sinnierend mit dem Fuß in der Erde.
„Die haben einfach die Tore aufgemacht und alles laufen lassen. Was sollten sie auch machen, es ging kein Wasser mehr, kein Licht, Futter war irgendwann mal alle. Die im Zoo auch. Manche haben alles einfach verrecken lassen und sind abgehauen. Weit sind die aber nicht gekommen.“
„Wie hat das alles begonnen?“ Frage ich.
Auf die Unterlippe beißend, stiert der Alte in die Ferne, als ob da die Antwort zu finden sei.
Stockend kommen seine Worte, dann spricht er flüssiger:
„Damals fing es an wärmer zu werden! Irgendjemand kam dann auf die Idee, dass Treibhausgase daran schuld seien, Kohlendioxid und so… aus Industrieanlagen und Autos. Schau dich um, es ist alles weg und trotzdem ist es wärmer.“
Kurze Pause.
„Es ist einfach nur wärmer geworden … Ja und dann haben sie überall diese Windräder aufgestellt und gegen die Kohle demonstriert… Selbst die Kinder haben sie verrückt gemacht.“
„Ja ich weiß“ Sage ich: „Immer Freitags haben sie die Schule geschwänzt“.
Leises Abwinken.
„Aus Kindern wurden Jugendliche, die haben dann richtig randaliert! Haben die Kohlekraftwerke und Tagebau-Bagger besetzt, man hat ihnen erzählt, man könne die einfach abschalten und alles über Wind, Solar und so ‘n Zeugs erledigen. Ja und dann haben sie einige Kraftwerke einfach sabotiert… und den Saft abgedreht“
Jetzt lässt er den Kopf hängen. Das Kinn liegt fast auf der Brust.
„Das ging am Anfang auch noch gut, es gab nur ein paar Stromausfälle… aber dann. Aus…, nichts mehr… Black Out! Na gut dachte man. In ein, zwei Tagen, dann geht’s schon wieder. Denkst de … dann brach das Chaos los. Plünderungen…wie die Tiere… ein richtiger Krieg. Ein paar Atomkraftwerke gingen hoch… Dann kamen die Epidemien, kein sauberes Wasser, überall Dreck, Müll und Fäkalien. Keine Medikamente mehr. Die Menschen starben wie die Fliegen. Wer nicht ermordet wurde, starb an Krankheiten oder Hunger, verbrannte oder wurde von irgendeinem Chemie-Gau ausgelöscht. Meine Kinder….“
Eine Hand zeigt zur Eiche. „… sie starben an Cholera. Nur ich war noch übrig…“
Tränen rollen über seine faltigen Wangen und versickern langsam im Bart. Jetzt wirkt er alt und gebrechlich. Ein Windstoß durchpflügt die grauen Haare, der Bart flattert heftig.
„Man musste sie sofort begraben, Kühlung gab es ja nicht mehr. Viele wurden gar nicht begraben. Meine Frau fuhr in die Stadt… sie kam nicht wieder, ich weiß nicht…“
Zitternde Stimme. Man sieht ihm die Gedanken an, die weit in der schmerzhaften Vergangenheit unterwegs sind. Wieder wischt seine Hand über die Augen. Dann wieder fester.
„…das ist jetzt über 30 Jahre her. Und jetzt. Alles wächst und wird riesig, Co2 ist immer noch da. Wir haben hier Wetter wie früher auf den Azoren. Es ist wie im Paradies, wir könnten viele Menschen ernähren… Jetzt sind kaum noch welche da…“
Die riesigen Hunde bewegen sich, ihre Köpfe gehen hoch und gewaltige Nasen durchsuchen die Luft nach verdächtigen Molekülen. Wie auf ein geheimes Zeichen stehen jetzt alle auf und starren in Richtung des kleinen Wäldchens, aus dem ich kam.
Auch in die Viehherden kommt Bewegung. Schnauben und Scharren dringt von den Pferden herüber.
„Lass uns gehen, die Sonne geht gleich unter, da werden die Raubtiere munter. Ganz schön dreist sind sie geworden.“ Nun wieder der drahtige, verschmitzt lächelnde Mann.
Ich merke ein Lecken an meiner Hand…
Jäh schrecke ich hoch. Etwas Feuchtes stupst mich an. Im Dunkeln ertaste ich mein Gesicht. Es ist nass. Auch das T-Shirt ist schweißnass. Unser Hund rückt näher an mich heran. Im Bett sitzend, atme ich keuchend. Noch benommen, setze ich mich auf die Bettkante und suche nach der Wasserflasche. Real wirkt das eben Geträumte in mir nach. Blicke mich um und sehe schemenhaft ein sanftes auf und ab der Bettdecke neben mir. Leises Atmen meiner Frau.
Langsam wird mir klar: Der alte Mann… das war ICH!