Kernkraft gegen Sonne

Im Mai 2017 hat das Schweizer Volk mit der Zustimmung zum Energiegesetz im Prinzip ja gesagt zur sogenannten Energiestrategie 2050 (ES 2050), die einen Ersatz der Kernkraft primär durch Solar- und Windenergie vorsieht. Damals war heftig umstritten, wie teuer dieser Totalumbau werden würde. Die im Abstimmungsbüchlein offiziell dargestellten Kosten von 40 Franken pro Jahr und Haushalt kontrastierten stark mit unseren Berechnungen von 2014. Diese ergeben Investitionskosten von 100 Milliarden Franken. Noch greller war der Kontrast zu den 3200 Franken pro Jahr und Haushalt, die das Nein-Komitee als Kosten der Energiewende errechnet hatte. Weiss man heute mehr?

Natürlich sind solche Langzeitprognosen mit extremen Unsicherheiten verbunden. Die enorme Spannweite der Kostenschätzungen hätte jedoch dem Stimmvolk erklärt werden müssen. Alt Bundesrätin Leuthard betonte einfach immer wieder, die Kernkraft sei kostenmässig längst von Wind und Sonne verweht. Aus heutiger Sicht ist klar, dass der offizielle Betrag von 40 Franken pro Jahr und Haushalt nicht eine statistische Fehlleistung (wie bei der Heiratsstrafe) war, sondern eine bewusste Fehlleitung der Bevölkerung.

Wir legen hier die Grundzüge einer vernünftigen Kostenschätzung dar und beschränken uns dabei auf den Vergleich der Kernkraft mit der Solarenergie und einem geringen Anteil Windkraft (11 Prozent), welche wegen des riesigen Platzbedarfs, der schwachen Winde und des Landschaftsschutzes in der Schweiz eine Nische bleiben wird. Bis 2035 werden Geothermie sowie Biomasse und Wasser kein oder kaum zusätzliches Potenzial haben. Die folgenden Investitionsvergleiche stützen sich auf praxisbewährte Fakten und nicht auf Modellsimulationen. Die Datenbasis kann auf unserer Homepage abgerufen werden (www.c-c-netzwerk.ch).

Weniger für mehr

Direkte Kostenvergleiche zwischen verschiedenen Technologien zur Stromproduktion sind nur zulässig für die plan- und steuerbare Grundlast-Stromproduktion rund um die Uhr. Dazu eignen sich Energieträger wie Erdgas, Erdöl, Kohle, Kernkraft und Geothermie – aber nicht Solarenergie. Die reinen Produktionskosten (sog. levelized costs) sind für den Solarbereich nicht massgebend, weil dieser weitestgehend durch eine variable und nicht steuerbare Produktion geprägt ist, die pro eingesetzten Franken einen viel geringeren Wert für das Versorgungssystem aufweist. Anders gesagt: Solarenergie ist völlig instabil, wetterabhängig und erst noch «leistungsdünn». Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive sind Anlagen mit derart unsteter Produktion – bekannt auch als Flatterstrom – viel weniger wert als etwa gleich teure Investitionen, die eine konstante Grundlastenergie erbringen. Für die Verbraucher im Stromnetz heisst das: Entweder müssen sie mit Stromausfällen leben, oder eine einigermassen sichere Versorgung kostet viel mehr als vorher.

Die Lücke zwischen dem Marktwert von Solaranlagen und jenem von verlässlichen Energiequellen ist krass und wird zudem umso grösser, je höher der Anteil der unzuverlässigen Flatterkapazitäten im System ist – da können die Solarzellen noch so billig werden. Weil die Leistungsdichte der Sonne (bei uns rund 10 Watt pro Quadratmeter, über das Jahr gemittelt) nicht erhöht werden kann, braucht es eine steigende Unterstützung aus flexiblen und steuerbaren Ersatzkraftwerken oder aus Speicherkapazitäten. In Deutschland sind die Subventionszahlungen deutlich höher als die Markterlöse aus Solar- und Windstrom. Übers Jahr gerechnet, erreicht diese Differenz inzwischen über 25 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Dabei sind die deutschen Konsumentenpreise für Strom schon heute doppelt so hoch wie im kernkraftgeprägten Frankreich und dreimal höher als in den auf fossile Energieträger ausgerichteten USA.

Was heisst das für die Schweiz? Entweder verdoppeln wir wie die Deutschen die Produktionskapazitäten mit «fossilen» Kraftwerken, um trotz Dunkelflauten dennoch eine stabile Produktion zu garantieren – oder wir setzen voll auf Solarenergie und ersetzen die Jahresproduktion der Kernkraftwerke durch eine etwa zwölfmal grössere Solarleistung und speichern die Überschüsse. Denn das wäre nötig, um trotz Flatterhaftigkeit eine gewisse Verlässlichkeit zu erreichen. Wir nehmen Frau Leuthard beim Wort und legen die Voll-Solar-Lösung unseren Schätzungen zugrunde.

Dieses Szenario lässt sich so zusammenfassen: Ausgehend vom erwarteten landesweiten Stromverbrauch für 2035, schätzen wir die Nuklearproduktion, die zu ersetzen ist, auf 20 550 GWh pro Jahr (nur noch das KKW Leibstadt wird aktiv sein). Aus konventioneller Sicht könnte ein thermischer Kraftwerkspark (Betrieb mit Kohle, Öl, Gas oder Nuklearenergie) mit 2600 MW nomineller Leistung diese Lücke füllen. Aber die Energiestrategie 2050 verbietet Kernkraftwerke, und die CO2-Emissionsziele schliessen fossile Energie aus. Ohne den Ersatz aus thermischen Kraftwerken müssten deshalb die Solaranlagen bis 2035 pro Jahr 18 350 GWh und Windräder 2200 GWh ins Netz pumpen, um den Kernkraftausfall zu kompensieren.

Und was kostet das? Die Investitionskosten würden sich auf 93,8 Milliarden Franken für Sonnen- und Windanlagen summieren – gigantisch im Vergleich mit der Summe für neue Kernkraftwerke der modernen dritten und vierten Generation, die auf 18,7 Milliarden Franken zu stehen kämen, oder für Gaskraftwerke, die für 2,6 Milliarden Franken zu haben wären.

Woher kommen diese gewaltigen Unterschiede? Der Hauptgrund dafür sind die sogenannten Lastfaktoren. Bei Solaranlagen beträgt die in der Praxis tatsächlich produzierte Energie nur etwa 10 Prozent der gemäss Nominalleistung möglichen Jahresproduktion, thermische Anlagen dagegen kommen auf 90 Prozent – das Neunfache von Solar. Bei Windanlagen sind es auch lediglich 19 Prozent. Verlustleistungen für die Speicherung bei Solar- und Windanlagen sowie der Wirkungsgradabfall über die Betriebszeit der Solarpanels sind da mit eingerechnet.

Zwingend damit verbunden ist auch die Notwendigkeit der Speicherung der kurzzeitigen Produktionsüberschüsse zur Überbrückung von Dunkel- und Windflauten und vor allem auch für den saisonalen Ausgleich. In die genannten 93,8 Milliarden Franken sind diese Zusatzkosten für die solar- und windbedingten Pumpspeicheranlagen verursachergerecht als kostengünstigste Lösung mit einbezogen. Die bestehenden Pumpspeicheranlagen sind allerdings für die neue Betriebsart der Solarspeicherung ungeeignet und etwa achtmal zu klein.

Der Ausgleich über den Jahresverlauf ist deshalb entscheidend, weil zwei Drittel des Solarstroms im Sommerhalbjahr anfallen, der Stromkonsum im Winterhalbjahr aber 55 bis 60 Prozent des ganzen Jahresverbrauchs ausmacht, so dass schon heute steigende Importquoten im Winter die Versorgung sichern müssen. Ob aber auch 2035 mit Importen in noch grösserem Umfang gerechnet werden darf, ist mehr als fraglich, weil Deutschland den Kern- und eventuell sogar den Kohlekraftausstieg zu bewältigen hat und die Produktionsprognosen für Frankreich und Österreich ebenfalls auf eine Verknappung hindeuten. In Italien hat die Stromknappheit Tradition. Ein Stromabkommen Schweiz–EU hilft da wenig bis nichts.

Für Speicherung von Energie via Pumpspeicher-Stauseen rechnen wir mit einem Wirkungsgrad von 78 Prozent und für die alternative Speichermethode Power-to-Gas-to-Power (P2G2P) mit lediglich 25 Prozent, also einem massiven Verlust. Das heisst: Wenn wir statt der Pumpspeicherung im Sommer die Stabilisierung mit der Methode P2G2P wählen, also aus Strom Gas erzeugen und dieses im Winter wieder in Strom umwandeln, steigen die Investitionskosten für das Konzept «Solar und Wind» von 93 Milliarden auf 130 Milliarden Franken, und zwar ohne spezielle Investitionen in Gasspeicherung oder Ähnliches einzukalkulieren. Zur Erinnerung: Würden wir die erforderlichen Solarinvestitionen durch erdgasbetriebene Kombikraftwerk-Anlagen ersetzen, würden sich die Kosten auf 2,6 Milliarden Franken reduzieren.

Kernkraftwerke der vierten Generation

Das Fazit lautet somit: Solar- und Windkraftkapazitäten als Ersatz der Kernkraft würden rund fünfmal höhere Investitionskosten verursachen als neue Nuklearanlagen – die gegenüber Solaranlagen übrigens nur einen Siebtel an anrechenbarem CO2-Ausstoss brächten. Energie aus Erdgas käme nur auf etwa einen Dreissigstel der Solar-Lösung zu stehen, allerdings mit schwierig abschätzbaren Kosten für den CO2-Ausstoss.

Wie sind nun die vom Bund in die Welt gesetzten 40 Franken pro Haushalt und Jahr für die Energiewende zu beurteilen? Dieser Betrag wäre etwa am Platz, wenn Erdgasenergie als Kernkraftersatz eingerichtet würde. Etwas mehr, also über 200 Franken pro Haushalt, würde die Kernkraft kosten und rund 1600 Franken die Lösung mit Solar- und Windenergie mit der billigsten Speichervariante. Nach der Abschaltung von Leibstadt, aber mit zusätzlichen Netzausbaukosten sind 2000 Franken pro Jahr unsere vorsichtige Schätzung für eine durchschnittliche Familie. Das ist etwa fünfzigmal mehr, als der Bund vor der Abstimmung im Mai 2017 dem Stimmvolk vorgegaukelt hat. Dabei haben wir die Immobilienkosten, den Landverschleiss sowie andere Belastungen aus negativen Nebenwirkungen noch gar nicht berücksichtigt, weil diese schwierig abschätzbar sind.

Warum sind Investitionen in neue Nuklearanlagen kein Thema und im deutschsprachigen Europa (noch) nicht durchsetzbar? Der Grund liegt nicht in der Rentabilität, sondern im politischen Umfeld mit den schier unüberwindbaren Bürokratiehürden und den milliardenschweren Subventionen für Solar- und Windanlagen. Zudem wehrte sich unsere staatsnahe Strombranche bisher zu wenig.

Im heutigen Öko-Mainstream wäre auch das Wasserwerk auf der Grimsel chancenlos geblieben. Aber anderswo ist anderes möglich. In China wie auch in Russland sind kürzlich die ersten Kernkraftwerke der vierten Generation ans Netz gegangen. In den nächsten Jahren werden besonders in China weitere folgen, ebenso in den Golfstaaten. Im Gegensatz zu den wegen verlorengegangener Projekterfahrung und ständiger Regeländerungen pannenbelasteten Einzelprojekten in Europa wird sich die Bauzeit von chinesischen Werken deutlich verkürzen. Die Kosten werden entsprechend sinken.

Sobald diese Reaktortypen konstruktiv und auch bautechnisch standardisiert sind, werden unsere Kostenschätzungen rasch sehr viel realistischer als der ES-2050-Zauber dastehen. Und unsere Enkel werden sich die Augen reiben über die solare Verblendung und politische Naivität der sogenannten Energiewende.

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Emanuel Höheren, Dipl. Ingenieur ETH, und Silvio Borner, emeritierter Ökonomieprofessor der Universität Basel, sind im Vorstand des Carnot-Cournot-Netzwerks, einer Plattform für politische und wirtschaftliche Fragen.

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Kernkraft gegen Sonne | Die Weltwoche, Nr. 3 (2019) | 17. Januar 2019,  http://www.weltwoche.ch/

EIKE dankt der Redaktion der WELTWOCHE und den Autoren Emanuel Höhener und Silvio Borner für die Gestattung der ungekürzten Übernahme des Beitrages.

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