Mit heißer Nadel gestrickt! Warum der Atomausstieg teuer wird
Schwache Argumentationsbasis der Kanzlerin
Wenige Tage nach Fukushima, am 15. März 2011, traf sich die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder, in denen Kernkraftwerke aufgestellt waren. Sie erläuterte des Plan eines Moratoriums im Sinne einer vorsorglichen Gefahrenabwehr. Juristisch werde das Moratorium gestützt durch das Atomgesetz § 19 Absatz 3, wonach man Kernkraftwerke einstweilen oder gar endgültig abschalten könne, wenn Gefahr im Verzug sei. Die Ministerpräsidenten stimmten dem zu. Die Bundeskanzlerin kündigte zusätzlich an, dass die Reaktorsicherheitskommission (RSK) jedes Atomkraftwerk technisch überprüfen werde, mit dem Ziel, bisher nicht entdeckte Risiken zu ermitteln.
Die RSK legte etwa zwei Monate später einen 115-seitigen Bericht vor, der von über hundert ausgewiesenen Reaktorexperten verfasst war. Die eindeutige Aussage dieser Fachleute war, dass ein ähnlicher Unfall wie in Fukushima an deutschen Kraftwerken nicht passieren könne. Einerseits, weil die geologischen und meteorologischen Verhältnisse dies nicht zulassen und andererseits, weil die deutschen Anlagen gegen Störfälle dieser Art weitaus besser geschützt sind. Der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen stellte deshalb auf einer Pressekonferenz folgerichtig fest: Unsere Anlagen in Deutschland weisen alle miteinander ein deutlich höheres Sicherheitsniveau und größere Reserven gegenüber solchen Ereignissen auf als die betroffenen Anlagen in Japan. Es gibt deshalb aus sicherheitstechnischer Sicht keine Notwendigkeit, Hals über Kopf aus der Kerntechnik auszusteigen
Späte Gegenwehr der Betreiber
Verwunderlich ist, dass die Betreiber der stillgelegten Kernkraftwerke – also RWE, Eon, EnBW und Vattenfall – diese argumentative Steilvorlage des obersten Aufsehers Röttgen nicht nutzten. Sie hätten lediglich eine Klage gegen die offensichtlich unbegründete Stilllegungsanordnung einreichen müssen, um ihre Anlagen weiterbetreiben zu dürfen. Röttgen hätte in diesem Fall seine Anordnung mit Sofortvollzug samt technischer Begründung ausstatten müssen. Das wäre ihm, angesichts des Votums der RSK, sicherlich schwer gefallen. De facto wäre es juristisch unmöglich gewesen. Aber offensichtlich getrauten sich die Betreiber in der damals aufgeheizten öffentlichen Stimmung gegen die Atomkraftwerke nicht, diesen Schritt zu gehen.
Das hat sich drei Jahre danach geändert. RWE verklagte im Sommer d. J. den Bund und das Land Hessen auf Schadensersatz für die Stilllegung seines Kraftwerks Biblis. In der Presse spekuliert man über einen Betrag von mehreren hundert Millionen Euro. Wenige Monate später verklagte Eon den Bund und mehrere Länder auf Schadensersatz in Höhe von 380 Millionen Euro wegen der dreimonatigen Stilllegung der Meiler Unterweser und Isar 1. Besonders teuer könnte der erzwungene Atomausstieg bei Vattenfall werden. Diese Firma klagt vor einem amerikanischen Gericht in Washington D. C. gegen die Abschaltung der Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel auf sage und schreibe 4,7 Milliarden Euro. Vattenfall ist dieser Gang nach USA möglich, da es ein schwedisches Unternehmen ist. Nach Einschätzung der juristischen Experten haben sämtliche Klagen durchaus Gewinnchancen für die Versorger.
Politisches Kalkül?
Es stellt sich die Frage, ob der Bundesregierung diese prozessualen Risiken nicht schon im Frühjahr 2011 bekannt waren. Immerhin kann sie auf eine Vielzahl höchstqualifizierter Juristen zurückgreifen. Über diese Frage wird derzeit immer mehr spekuliert. Nicht wenige sind der Meinung, dass die maßgebenden Regierungspolitiker damals bewusst dies Ausstiegsentscheidung getroffen haben, weil es die letzten Divergenzen mit der Partei der Grünen beseitigte und dies neue und zusätzliche Koalitionsoptionen eröffnete. Who knows?
Über den Autor:
Willy Marth, geboren 1933 im Fichtelgebirge, promovierte in Physik an der Technischen Hochschule in München und erhielt anschliessend ein Diplom in Betriebswirtschaft der Universität München. Ein Post-Doc-Aufenthalt in den USA vervollständigte seine Ausbildung. Am „Atomei“ FRM in Garching war er für den Aufbau der Bestrahlungseinrichtungen verantwortlich, am FR 2 in Karlsruhe für die Durchführung der Reaktorexperimente. Als Projektleiter wirkte er bei den beiden natriumgekühlten Kernkraftwerken KNK I und II, sowie bei der Entwicklung des Schnellen Brüter SNR 300 in Kalkar. Beim europäischen Brüter EFR war er als Executive Director zuständig für die gesamte Forschung an 12 Forschungszentren in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien. Im Jahr 1994 wurde er als Finanzchef für verschiedene Stilllegungsprojekte berufen. Dabei handelte es sich um vier Reaktoren und Kernkraftwerke sowie um die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe, wo er für ein Jahresbudget von 300 Millionen Euro verantwortlich war.
Übernommen vom Blog des Autors hier