Unsere Gesellschaft ist grundsätzlich unehrlich
Christian Schlüchter war Forscher und Lehrer an der ETH Zürich, wo er 1990 die Lehrbefugnis erwarb. Von 1993 bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Umwelt- und Quartärgeologie an der Universität Bern. Schlüchter forschte in den Alpen, in der Antarktis, in Neuseeland, auf dem Plateau von Tibet und in der Türkei. Auf der Home Page der Universität Bern werden über 2000 wissenschaftliche Publikationen von ihm aufgeführt (hier).
Der Bund, eine Schweizer Tageszeitung der Stadt Bern, hat ein längeres Interview mit Christian Schlüchter veröffentlicht, das wir nachfolgend in voller Länge veröffentlichen. Wir danken dem Bund für die freundliche Genehmigung für diese Veröffentlichung. Der Artikel des Bund selber ist auch im Internet (hier) aufzufinden. Nun das Interview:
Herr Schlüchter, Sie haben aufgrund der Analyse von Holzfunden im Vorfeld von Gletschern herausgefunden, dass Hannibal bei der Überquerung der Alpen meist durch den Wald, aber nie über Gletscher ging.
Das ist pointiert ausgedrückt. Mit Hannibal wurde ich im Laufe meiner Forschungen aber tatsächlich konfrontiert. Ein Freund sagte mir, dass ich die Öffentlichkeit darauf vorbereiten sollte, vom hehren Bild der Alpen mit Gletschern im Abendrot Abschied zu nehmen – zugunsten einer «hannibalistischen Welt».
Was meinen Sie mit «hannibalistischer Welt»?
Die Waldgrenze lag viel höher als heute, Gletscher gab es kaum. In keinem der detaillierten Reiseberichte aus der Römerzeit werden Gletscher erwähnt.
Den ersten Holzfund machten Sie am Steingletscher im Sustengebiet. Es habe sie «tschuderet», sagten Sie später. Wie haben Sie das gemeint?
Bis in die 90er-Jahre beschränkte sich die Gletscherforschung auf eine Datierung der Gletschervorstösse und Moränenstände. Dabei ging vergessen, was zwischen den Vorstössen geschah. Man kannte nur 50 Prozent der Gletschergeschichte. Und plötzlich stiess ich auf dieses Holz, wenige Meter vor dem Gletscher. Es war zerschlissen, als ob jemand mit einem stumpfen Beil daran gearbeitet hätte. Mir war sofort klar: Das ist ein Dokument, wie man es bisher noch nie gefunden und analysiert hatte. Der Baum musste älter sein als die Kleine Eiszeit (1400 bis 1850). Ich liess ihn umgehend im Labor datieren.
Und wie alt war er?
Knapp über 4000 Jahre alt.
Was haben Sie sich dabei gedacht?
Ich müsse weitere Belege finden. Kurz darauf war ich mit Studierenden im Val Malenco im Veltlin, wo wir auf ein Seelein vor einem kleinen Gletscher stiessen. Das Gewässer wurde gestaut von einer Moräne aus der Kleinen Eiszeit. In deren Erosionsrillen fanden wir zusammengedrückte Sedimente eines weiteren Sees mit organischen Spuren. Diese waren praktisch gleich alt wie das Holz am Steingletscher. Das heisst: Vor der Kleinen Eiszeit gab es bereits ein Seelein, das dann vom Gletscher zugedeckt wurde. Zwei Jahre später fand ich zahlreiche Hölzer am Unteraargletscher. Seither habe ich mehr oder weniger regelmässig weitere Belege gefunden.
Dort, wo heute der Unteraargletscher liegt, war einst grüne Fläche?
Es war eine Landschaft mit einem breiten, verwilderten Fluss. Wir fanden auch viele über 2000-jährige Torfstücke.
Haben Sie je daran gedacht, dass 10’000 Jahre Erdgeschichte neu geschrieben werden müssten?
Nein, nein. Das wäre vermessen. Die holozäne Gletschergeschichte war ja nicht mein primäres Forschungsgebiet.
Aber bis dahin ging man ja von einem Rückgang der Gletscher seit dem Ende der Eiszeit aus?
Ja, mehr oder weniger, mit etwas oszillierenden Gletscherzungen. Man hat sich aber nicht überlegt, was zwischen den Vorstössen geschehen ist. Es hat mich fasziniert, mehr über die Rückzugsphasen der Gletscher zu erfahren.
Die Reaktionen auf Ihre Entdeckungen waren harsch. Der Berner Klimaforscher Heinz Wanner hielt Ihnen vor, aus Holz- und Torfanalysen alleine könne man keine Rückschlüsse auf die Bewegungen der Gletscher schliessen. Dazu brauche es Energie- und Massenbilanzen.
Ich hätte das Holz gar nicht finden dürfen, weil ich nicht zum engeren Kreis der Holozän- und Klimaforscher gehöre. Meine Funde haben daher viele Experten auf dem falschen Fuss erwischt: Jetzt hat ein «Laie» etwas gefunden, was die Holozän- und Klimaforscher hätten finden müssen.
Also ging es bloss um Forscherneid, und die Einwände waren haltlos?
Ich würde das nicht so ausdrücken. Wir hatten am Anfang aber Mühe, Publikationsmöglichkeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften zu finden. So mussten wir die ersten Beiträge in methodischen Publikationen unterbringen. Wieso sollte es Massenbilanzen brauchen, wie Wanner sagte? Ein Gletscher geht zurück, wenn die Masse schwindet. Wenn die Masse wieder zunimmt, stösst auch der Gletscher vor. Die Lage der Gletscherzunge ist ein leicht verzögertes Abbild der Massenbilanz.
Haben Sie das Gespräch mit Herrn Wanner gesucht?
Wir haben uns öfters darüber unterhalten. Er hat mir schliesslich anvertraut, dass er aus einem unserer Aufsätze zitiert habe. Das ist eine Ehre für uns.
Sie standen in einem fremden Gärtchen herum?
Das ist etwas zugespitzt formuliert. Ich habe ein Leben lang geforscht, was Gletscher mit ihrer Unterlage machen. Dabei habe ich mir zwangsläufig auch Gedanken über die Gletschergeschichte gemacht. Wir haben zum Beispiel eine andere Datierungsmethode entwickelt als die gängige C-14-Methode, die auf organischen Materialien basiert. Mit unserer Methode kann man das Alter einer geologischen Oberfläche bestimmen.
Das waren die Forschungen an der Felskante des Rhonegletschers beim Hotel Belvédère?
Genau. Diese Publikation hatte für grosses Aufsehen gesorgt. Wir wollten prüfen, ob die vom Rhonegletscher freigegebene Felsfläche schon einmal der kosmischen Strahlung ausgesetzt war. War der Gletscher schon einmal so klein wie heute? Ist das messbar anhand der Isotopen an der Oberfläche des Gesteins? Die Resultate waren klar und eindeutig. Die Felskante war in den letzten 10’000 Jahren während 5800 Jahren eisfrei.
Dann ist der heutige Zustand des Gletschers der Normalfall?
Der Gletscher war mehrheitlich gar noch kleiner. Vorher hiess es bei unseren Publikationen jeweils: «Der Schlüchter ist wieder einmal holzen gegangen.» Nun war klar, dass unsere Forschungsergebnisse sich nicht nur auf die Altersbestimmung von Holz stützten. Von da an konnten wir ungehindert publizieren. Ein Jahr später fanden wir im Vorfeld des Glacier du Mont Miné im Wallis riesige Stämme. Bei der Altersbestimmung konnte festgestellt werden, dass diese Bäume innerhalb eines Jahres gestorben sind. Das war das zweite Mal, dass es mich «tschuderet» hat.
Der Gletscher stiess sehr rasch vor?
Vielleicht wurden die Bäume nicht vom Gletscher direkt, sondern von Murgängen gefällt. Das Todesjahr konnte exakt auf 8195 Jahre vor heute datiert werden. Die Sauerstoffisotope im grönländischen Eis zeigen um 8200 Jahre vor heute eine markante Abkühlung. Damals stiessen die meisten Gletscher in Grönland rasch vor. Unsere Funde am Glacier du Mont Miné zeigten, dass dieses Kälteereignis offenbar auch die Alpen erfasste.
Deshalb kamen Sie zum Befund, dass die Bewegungen der Gletscher vor allem von der Aktivität der Sonne abhängen?
Nein, darauf kam ich schon vorher. Aber von da an konnten unsere Forschungen nicht mehr negiert werden.
Der UNO-Weltklimarat prophezeite 2001, dass die Alpengletscher im Jahr 2100 weitgehend verschwunden sein werden. Ihre Forschungen stehen da quer in der Landschaft?
Ich würde das nicht so formulieren. Wir haben Folgendes gezeigt: Erdgeschichtliche Erwärmungsphasen waren stets intensiv, rasch und von Katastrophen begleitet. Heute befinden wir uns immer noch in einer exponentiellen Zunahme der Erwärmung nach der Kleinen Eiszeit.
Laut UNO-Weltklimarat kommt zusätzlich zur erdgeschichtlichen Erwärmung aber noch die vom Menschen gemachte dazu?
Richtig. Aber es gilt zu bedenken, dass das System extrem dynamisch ist und nicht linear funktioniert. Die Gletscher rücken nicht friedlich vor, bleiben eine Weile liegen und gehen dann zurück.
Warum bewegten sie sich in den letzten 200 Jahren denn viel dynamischer als vorher?
Das trifft so nicht zu. Man kannte früher nur Bruchstücke der Geschichte und wusste nicht, dass das System so dynamisch ist. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Höchststand der Kleinen Eiszeit, die Gletscher waren vorgerückt. Dann fielen sie zurück. In den 1980er-Jahren gab es aber erneut Vorstösse.
Der Rückgang Mitte des 19. Jahrhunderts fiel doch mit dem Beginn der Industrialisierung zusammen?
Diese Frage ist bis heute nicht beantwortet: Wieso gingen die Gletscher Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, obwohl der grosse CO2-Anstieg in der Atmosphäre erst später kam? Warum «kippte» die Erde in derart kurzer Zeit in eine Erwärmungsphase? Warum gab es in den 1880er-, 1920er- und 1980er-Jahre wieder Vorstösse? Ein berühmter Klimaforscher liess in den 1980er-Jahren in «Bund» und BZ verlauten, uns stehe die nächste Eiszeit bevor.
Es schleckt aber keine Geiss weg: Der Gletscherschwund ist rasant.
Ja. So katastrophal wie am Ende der letzten Eiszeit. Aber das System funktioniert nicht linear. Früher oder später muss die Klimaforschung die Frage beantworten, warum der Rückgang der Gletscher am Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 derart rasch eingesetzt hat.
Das CO2 spielte keine Rolle für den Gletscherschwund?
CO2 spielt eine Rolle. Aber man kann es nicht zur alleinigen Ursache erklären, ohne die Vorstösse der Gletscher in den 1980er-Jahren zu erklären. Zudem müsste man erklären, welche Rolle das CO2 bei den grossen erdgeschichtlichen «Wendepunkten» zum Beispiel vor 115’000 Jahren spielte.
Da gab es ja noch keine Menschen.
Eben. Warum wurde es da kälter? Warum wurde es vor 17’500 bis 18’000 Jahren wieder wärmer? Ich negiere nichts, ich will aber wissenschaftliche Antworten auf diese Fragen.
Sie führen die Gletscherbewegungen auf die Sonnenaktivität zurück. Da müssten wir heute in einer Phase grosser Sonnenaktivität sein.
Auf der Nordhalbkugel sind wir heute in einer Phase mit Abkühlungstendenzen. Trotzdem gehen die Gletscher zurück. Viele sind überzeugt, dass der Mensch dafür verantwortlich ist. Für mich persönlich ist das nicht die zentrale Frage. Unsere Gesellschaft ist grundsätzlich unehrlich. Man spricht immer vom «Hockey-Stick», der eine lange Phase konstanter Temperaturen mit einer exponentiellen Erwärmung in den letzten 100 Jahren anzeigt. Aber es ist eigentlich ein «Double-Stick», weil man auch die Bevölkerungszunahme zeigen müsste. Darüber spricht aber niemand. Der Konnex zwischen Erderwärmung und Bevölkerungszunahme wird nicht gemacht.
Warum ist eine menschliche Ursache der Klimaerwärmung für Sie nicht zentral? Sind Sie ein Zyniker?
Nein, ganz im Gegenteil. Aber wir wissen noch so wenig, wenn wir nicht erklären können, warum die alpinen Gletscher am Ende der Kleinen Eiszeit zurückgingen. Und warum die Kleine Eiszeit überhaupt angefangen hat. Haben die Römer mit Heizen aufgehört, sodass es weniger CO2 in der Atmosphäre gab?
Nach dem Untergang des Römischen Reiches ging es kulturell ja schon etwas bachab.
Das ist jetzt aber auch zynisch. Die Zeit, die wir betrachten, ist doch viel zu kurz.
Beim sogenannten Klimagate vor ein paar Jahren wurde ein Mail eines Wissenschaftlers publik, der schrieb, man müsse die Kleine Eiszeit wegdefinieren.
Genau diese Diskussion berührt mich nicht, weil sie nicht ehrlich ist.
Es geht wohl um Geld.
Es geht auch um Geld für Forschung und Renommee.
Unterstellen Sie den Forschern des UNO-Weltklimarates politisches Kalkül?
Ich wurde einmal aus Versehen an ein Meeting in England eingeladen. Die Diskussion dort war sehr denkwürdig. Sie wurde von jemandem des East Anglia Climate Center geführt, das wegen der publizierten E-Mails im Zuge von «Klimagate» in die Kritik geraten war. Der Gesprächsleiter sprach als eine Art Vater. Er setzte sich auf einen Tisch vor der versammelten Gemeinde und nahm die Messages entgegen. Diese kommentierte er entweder wohlwollend oder ablehnend. Zuletzt ging es um Tipps, wie man welches Gesuch an welcher Stelle für bestimmte Forschungen formuliert. Für mich war es beeindruckend, zu sehen, wie der Gesprächsleiter Informationen gesammelt und selektioniert hat. Mir geht es auch um die Glaubwürdigkeit der Naturwissenschaft.
Die Naturwissenschaft wird korrumpiert?
Viele Naturwissenschafter sind heute Zudiener von Politikern, aber nicht mehr Naturwissenschafter, denen es um neues Wissen und Daten geht. Und das macht mir Sorge. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele für das Versagen der Naturwissenschaft, weil der Mut gefehlt hat. Dasselbe gilt auch für andere Disziplinen, aktuell zum Beispiel für die Ökonomie.
Und heute sind wir wieder in einer Situation, in der man gewisse Möglichkeiten im Voraus ausschliesst?
Es gibt schon Fragen, die tendenziell (noch) ausgeblendet werden. Mehr und mehr jungen Forschern wird aber bewusst, dass der Stellenwert der Forschung sinkt, je mehr sie sich der Politik ausliefert.
Laut einem weiteren Berner Klimaforscher, Thomas Stocker, haben wir nur noch die Wahl zwischen einer Erderwärmung um zwei oder um vier Grad. Ist das Hysterie?
Die Erfindung des Teufels war die grandioseste Erfindung, die die Menschheit je gemacht hat. Man kann viel Geld machen, wenn man ihn an die Wand malt. Andererseits wären die möglichen Auswirkungen einer Erwärmung auf eine so komplexe und verwöhnte Gesellschaft wie die heutige gravierend – vergleichbar mit der Situation, die die Völkerwanderung ausgelöst und das Römische Reich zum Einsturz gebracht hat.
Ist es nicht beängstigend, wenn die Gletscher im Jahr 2100 weg sind?
Sie kommen wieder, weil wir auf der Nordhalbkugel noch im Modus der Eiszeit sind. Die Gleichgewichtslinie, also die Linie zwischen Nähr- und Zehrgebiet eines Gletschers, lag zu Zeiten Hannibals mindestens 300 bis 350 Höhenmeter höher als heute. Die Durchschnittstemperatur lag anderthalb Grad über jener von 2005. Erdgeschichtlich ist die jetzige Entwicklung nicht neu.
Gab es in der Römerzeit auch aufgetaute Permafrostböden, Murgänge und gefährdete Verkehrswege?
Murgänge gibt es in der Phase des Übergangs von kalt zu warm. Danach sind diese Böden wieder stabil. Das geht oft vergessen. Unsere Infrastruktur heute ist aber viel verletzlicher als damals.
Die Alpen ohne Permafrostböden wären kein Drama?
Mittelfristig nicht. Kurzfristig ist es für Bauten in diesen Böden dramatisch.
Ist die Wasserversorgung durch den Gletscherschwund nicht gefährdet?
Auf die Reserven der Wasserversorgung hätte das einen Einfluss, da der Gletscher als Speicher entfällt. Auf die Wasserversorgung als solche nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass es in den Alpen keinen Niederschlag mehr gibt.
Werden die Kinder Ihrer Enkel dereinst noch Gletscher erleben?
Ich versuche meinen Enkeln zu vermitteln, dass der Mensch nicht der Herr des Universums ist. Ich ermahne sie zu einem schonenden Umgang mit unseren Ressourcen, zum Beispiel dem Wasser. Man muss nicht jeden Tag duschen. Und ich versuche ihnen zu zeigen, dass sich die Umwelt verändert.
Trotzdem traten Sie als Kronzeuge gegen die Klimaerwärmung in der «Weltwoche» auf.
Ich habe mich nie politisch eingemischt.
Sie traten an SVP-Versammlungen als Gastreferent auf.
Ich habe vor allen Parteien gesprochen – nicht immer über «Eis und Holz».
Nochmals: Was steckt hinter den Gletscherschwankungen? Am Hebel der Veränderungen steht die Sonnenaktivität. Zudem spielen tektonische Bewegungen und die Verschiebung der Jahreszeiten in der Nordhemisphäre eine Rolle. Ein Auslöser können auch Vulkane sein.
Dieser Beitrag erschien zuerst in "Der Bund"