Menschen, denen es sehr gut geht, wollen keinen Fortschritt
F: Herr Haferburg, Sie leben in Paris. Wenn Sie auf einer Party erzählen, welchen Beruf sei ausüben, wie reagieren die Leute?
A: In Frankreich interessiert, in Deutschland entsetzt. Während man in Frankreich stolz auf die nationale Energiewirtschaft ist, sprechen deutsche Minister ganz offen davon, sie zerschlagen zu wollen. Die unterschiedliche Einstellung, wird besonders deutlich, wenn ein Castor-Zug von einem Land ins andere rollt. In Frankreich tuckert ein Polizist auf dem Motorrad nebenher. In Deutschland sind 16000 Polizisten nötig, um die Container zu sichern. Das deutsche Verhältnis zur Atomkraft trägt hysterische Züge. Der kleine Sohn eines Freundes musste die Schule wechseln, weil herauskam, dass sein Vater bei der „Atommafia“ arbeitet.
F: Wieso halten Sie die Abkehr von der Kernkraft für falsch?
A: Weil keine andere Form der Stromerzeugung so umweltfreundlich für die Grundlast sorgen kann. Energie ist das Rückgrat der Wirtschaft. Wir leben heute in Europa auf dem Wohlstandsniveau der römischen Cäsaren. Rund um die Uhr arbeiten 100 energetische Sklaven für uns. Billige Energie ist die Grundlage unseres Wohlstan-des, denn die Energiekosten preisen sich in alle Produkte ein. Wir sollten mit dieser Errungenschaft sorgsam umgehen und nicht leichtfertig eine bestimmte Form der Stromerzeugung zum Feind erklären. Deutschland tut derzeit alles, um Energie zu verteuern. Das wird nicht ohne Folgen bleiben.
F: Warum so pessimistisch?
A: Wir erleben gerade eine energetische Revolution. Durch die Möglichkeiten zur För-derung unkonventioneller Gas- und Ölvorkommen, wird Energie weltweit billiger – außer in Deutschland. Energetische Revolutionen haben in der Geschichte immer umwälzende Folgen gehabt. In Kanada zahlt man als Endverbraucher acht Euro-Cent pro Kilowattstunde, in Deutschland sind wir bei 27 Cent. Das wird sich auf die Industrieproduktion auswirken. Deshalb ist es nicht sehr weise, sich bei der Energie-versorgung von irrationalen Ängsten leiten zu lassen.
F: Atomenergie kann aber nur billig sein, weil sie jahrzehntelang subventioniert wurde.
A: Das ist schon ziemlich lange her. Heute ist das Gegenteil der Fall: die Brennelemen-te-Steuer. Kernkraftwerke produzieren derzeit für drei bis vier Cent pro Kilowattstun-de. Windenergie liegt – ohne Subventionen – bei zehn bis zwölf Cent, beim Solar-strom ist es doppelt so viel. Diese Formen der Stromerzeugung können nur durch Subventionen existieren.
F: Sind Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima nicht Argumente genug für einen Ausstieg?
A: Nüchtern betrachtet, waren die Folgen der drei Unfälle wesentlich geringer als die deutsche Öffentlichkeit bis heute glaubt. Die Gewinnung von Kohle, Öl, Gas kostet dagegen jährlich Tausende Menschenleben, über die kaum gesprochen wird. Auch durch berstende Staumauern von Wasserkraftwerken kamen weitaus mehr Men-schen um als durch Atom-Unfälle.
Harrisburg hat gezeigt, dass die Sicherheitssysteme funktionieren: Kernschmelze ohne ein einziges Strahlenopfer. In Tschernobyl kam es zu einer massiven radioakti-ven Freisetzung. Über 50 Menschen starben. Außerdem wird es laut Prognosen zu einem leichten Anstieg der Krebsrate in der Region kommen, der jedoch unterhalb des statistisch Messbaren liegt. Das ist furchtbar, aber weit entfernt von den vermeintlichen Hunderttausenden Toten, von denen in Deutschland bis heute immer wieder die Rede ist. In Fukushima gab es mehrere Kernschmelzen. Kein einziger Mensch kam durch Ra-dioaktivität zu Schaden. Die Japaner haben geschafft unter den Bedingungen einer Naturkatastrophe von biblischen Dimensionen sowohl die benachbarte Bevölkerung als auch Helfer vor Strahlenschäden zu schützen.
F: Sie waren vor kurzem auf einer Inspektionsreise in Japan. Wird das Land aus der Atomkraft aussteigen?
A: Nein. Die japanischen Kernkraftwerke rüsten gerade massive nach, um noch heftige-re Erdbeben und Tsunamis überstehen zu können. Sobald diese Baumaßnahmen abgeschlossen sind, werden sie wieder angefahren. Zwei laufen schon.
F: Was genau wird da sicherheitstechnisch verbessert?
A: Zum Beispiel 15 Meter hohe und kilometerlange Betondämme gegen Flutwellen. Die unterirdischen Pfeiler gehen 50 Meter tief in die Erde. Alle Kraftwerke kriegen zusätz-lichen Notkühltechniken, die auch dann anspringen, wenn kein Mensch mehr einen Schalter bedienen kann. Und es gibt weitere Systeme, die Strom liefern, auch wenn das Netzt zusammenbricht und die Dieselaggregate ausfallen.
F: In der DDR arbeiteten Sie in leitender Funktion in einer der damals größten Kernkraftanlagen der Welt: Lubmin bei Greifwald. Hat Sie die Sicherheit dort überzeugt?
A: Ja, aber gleichzeitig waren mir die Mängel im Sicherheitsdesign bewusst. Wir haben versucht, durch besondere Umsicht diese Mängel zu kompensieren, manchmal auf Kosten der Produktivität. Das war nicht immer leicht, weil die Vertreter der Partei uns Weisungen geben konnten.
F: Was waren das für Mängel?
A: Es gab kein Containment und keine passiven Sicherheitssysteme, die auch ohne Strom und ohne menschlichen Eingriff funktionieren.
F: Sie waren dort auch im berüchtigten Winter 1978 als Schneestürme und extre-mer Frost fast die gesamte Infrastruktur im Norden der DDR lahm legten. Wie nah waren die Deutschen damals einer nuklearen Katastrophe?
A: Lubmin war das einzige Kraftwerk der DDR, das noch in Betrieb war. Alle Kohlkraft-werke waren ausgefallen. Wir konnten die Anlage auch unter diesen Bedingungen sicher betreiben. Allerdings musste meine Schicht einmal 75 Stunden durcharbeiten, weil wir eingeschneit waren. Aber auch das haben wir mit einem strikten Schlafregiment in den Griff gekriegt.
F: Nach dem Mauerfall waren Sie das erste Mal in westlichen Atomkraftwerken. Was ist Ihnen da aufgefallen?
A: Die Anordnung der einzelnen Bauelemente war durchdachter und effizienter als die Konstruktionen, die ich aus dem Osten kannte. Es gab Dreifach- und Vierfachsyste-me für die Sicherheit.
F: Sie waren einer der letzten politischen Gefangene, die aus dem Untersu-chungsgefängnis Hohenschönhausen entlassen wurde. Warum gerieten Sie in die Fänge der Stasi?
A: In Leitungspositionen gehörte es dazu, dass man SED-Mitglied wurde. Ich wollte nicht, das machte mich verdächtig. Dann kam die Feuerprobe: Ein Stasi-Offizier trat an mich heran und forderte mich auf, Inoffizieller Mitarbeiter zu werden. Das lehnte ich ab. Ab da machten sie mir das Leben schwer. Wie ich später aus den Akten er-fahren habe, war ich das Objekt einer so genannten Zersetzungsmaßnahme. Das heißt, am Arbeitsplatz und im Privatleben wurde ein Netz um mich gesponnen, um mir in jeder Hinsicht Misserfolge zu bereiten. An dieser Zersetzungsmaßnahme ar-beiteten zeitweise 30 Leute. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, versuchte über die damalige Tschechoslowakei in den Westen zu flüchten, wurde erwischt und kam ins Gefängnis.
F: Und nach dem Mauerfall waren sie wieder in der Minderheit, diesmal als Kernkraftbefürworter…
A: Wobei es einen wichtigen Unterschied gibt: In der DDR war Kritik an der Kernkraft verboten. Im heutigen Deutschland ist es nicht verboten für Kernkraft zu sein. Aber es ist verpönt. Man wird in gewisser Weise sozial ausgegrenzt. Besonders bizarr fin-de ich, dass die SED, die damals Atomkraftgegner ins Gefängnis stecken ließ, heute als „Die Linke“ im Bundestag sitzt und für den Ausstieg stimmt.
F: Wie erklären Sie sich, dass in einer freien, offenen und pluralistischen Gesell-schaft Einheitsmeinungen entstehen und oftmals intolerant vertreten werden?
A: Die Anti-Kernkraft-Überzeugung trägt in Deutschland pseudo-religiöse Züge. Angst spielt dabei eine große Rolle. Die Atomkraftgegner schüren Angst. Das gibt ihnen Macht. Dazu kommt die katastrophale Kommunikation der Energieversorgungsunternehmen. Die haben sich über Jahrzehnte so ungeschickt angestellt, dass sie heute unglaubwürdig erscheinen, egal was sie sagen.
F: Es ist ja nicht nur die Kernenergie, die von vielen so vehement abgelehnt wird. Auch andere Technologien sind verpönt. Warum ist das so?
A: Weil wir eine reiche Gesellschaft sind. Wir können uns das leisten. Menschen, denen es sehr gut geht, wollen keinen Fortschritt. Sie möchten, dass alles bleibt, wie es ist.
Manfred Haferburg arbeitete in leitender Funktion im Kernkraftwerk Greifswald. Als er sich weigerte, Spitzel zu werden, erklärte ihn die Partei zum Staatsfeind. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wurde er zunächst in der damaligen CSSR inhaf-tiert, später im Stasigefängnis Hohenschönhausen. Hier gehörte er zu den letzten Gefangenen, die frei kamen. Haferburg lebt heute mit seiner Frau in Paris.
Sein gerade erschienener Roman „Wohn-Haft“ trägt autobiographische Züge und basiert auf wahren Begebenheiten. Die Hauptfigur entwickelt sich vom Mitläufer zum Regimegegner, wird verraten, zersetzt, gefangen und eingekerkert. Eine Lehrstunde über totalitäre Systeme mit genauer Beschreibung einzelner Rädchen. Wolf Bier-mann verfasste das Vorwort zu Wohn-Haft. KUUUK-Verlag, 524 Seiten, 29 Euro.