Leuchten die Tiere in der Todeszone von Tschernobyl?
Eine wissenschaftliche Debatte über Europas unwahrscheinlichstes Tier-Reservat.
Valentina Sachepok stürmte los, und ich hetzte hinter ihr her durch einen Wald in der Sperrzone rund um das Kernkraftwerk von Tschernobyl.
Ein Kamerateam folgte uns, sie drehten einen Dokumentarfilm über die alten Frauen von Tschernobyl. Die Katastrophe im Jahr 1986 zwang zur dauerhaften Evakuierung von 300.000 Menschen, aber ein paar Frauen leben noch halblegal in ihrer alten Heimat.
Sachepok, eine über 60-jährige pensionierte Krankenschwester, deren graue Haare unter einem braunen Tuch hervorlugten, ging nicht, sondern trottete und sprintete abrupt davon, während der Rest von uns sich abmühte, ihr zu folgen. Nach dem Sammeln von dicken gelben Pilzen aus einem Klumpen von Moos führte sie mich zu einer Kiefer. "Das ist für den Igel ", sagte sie über das stachelige Lieblingstier in slawischen Märchen. Sie spießte einen Pilz auf einen Kiefernzweig in Bodennähe.
Das ist dort, wo heute die Radioaktivität am höchsten ist. Die Explosion und das Feuer spuckten hier das Strahlungsäquivalent von mindestens 20 Hiroshima-Bomben aus, das meiste verblieb innerhalb von etwa 25 Meilen um die Reaktorgebäude. Die meisten radioaktiven Isotope sind längst abgeklungen, und der Regen hat den Rest in den Boden und in der Nahrungskette ausgewaschen. Zwei der langlebigsten Isotope sind Cäsium-137, das chemisch mit dem Kalium verwandt ist, und Strontium -90, das wie Calcium in Lebewesen inkorporiert wird. Da diese Isotope von Pflanzen, Tieren, Pilzen und Bakterien aufgenommen wurden, ist die Radioaktivität nicht mehr auf der Zone , sondern auch im Umkreis verteilt.
Dies ist ein einzigartiges Ökosystem, mit ca. 8.000 km² etwa halb so groß wie Thüringen (doppelt so groß wie Rhode Island) und liegt je etwa zur Hälfte in Weißrussland und in der Ukraine. Eine Generation, nachdem die meisten Menschen das Gebiet verlassen haben, haben Wälder und Feuchtgebiete die einst gepflegten Felder, Dörfer und Städte zurückerobert. Nur die gelegentlichen Gerippe von verfallenen Gebäuden sind stumme Zeugen der ehemaligen Bewohner.
Sachepok steckte noch einen Pilz 30 cm höher in dem Baum. "Das ist für die Rehe. Es ist schwer für sie, Nahrung unter dem Schnee zu finden. " Der Tag war Ende Oktober noch warm, aber in der Ukraine sind die Winter kalt.
Nur wenige wilde Tiere lebten im Jahr 1986 in der Region, ihre Lebensräume war für sowjetische Milchviehbetriebe und Kiefernwaldpflanzungen zerstört worden. Aber große Säugetiere tauchten fast unmittelbar nach den Evakuierungen auf – und die Tierpopulationen ist bald explodiert.
Rehe und Wildschwein, die hier in den frühen 1990er Jahren gefangen wurden, waren mit mehr als dem 2.000-fachen der zulässigen Grenzwerte für Cäsium-137 in Fleisch belastet. Obwohl Strahlenbelastung seither dramatisch gesunken ist, überschritten einige Tiere, die vor kurzem in Weißrussland untersucht wurden, die zulässigen Grenzwerte noch einige Dutzende Male.
Aber es ist eine Überraschung für praktisch jeden – die Tiere sahen alle körperlich normal aus. Das gleiche galt für andere untersuchte Arten – sie waren radioaktiv, sahen aber normal aus. Die wenigen bekannten Ausnahmen sind Albino- Spots (Pigmentdefekte?) und einige Missbildungen bei Rauchschwalben.
Aufrecht stehend spießt Sachepok einen Pilz ganz weit oben auf. "Und der ist für den Elch."
Von dem Dutzend Elche, die ich in meinem Leben gesehen habe, befanden sich alle in der Sperrzone, wo ich im Laufe meiner vielen Reisen mehr als einen Monat Zeit mit Recherchen zu meinem Buch „Wormwood Forest: A Natural History of Chernobyl“ verbracht habe. Es ist ein seltsamer und schöner Ort, wo ich Wölfe am helllichten Tag beobachten konnte; Spuren von Luchsen im Schnee und riesige Herden von Wildschweinen, Rehen und Elchen. Es zieht mich nach wie vor dorthin.
Sachepok lächelte spitzbübischer, als man es von einer einsamen Frau in einem radioaktiven Niemandsland erwartet. "Die Tiere kennen mich alle", sagte sie, ein Goldzahn glänzte, bevor sie mir einen Vortrag über gesunde Lebensweise hielt, eingeschlossen die Warnung vor dem, was sie die "Zombie- Box" nennt – dem Fernsehen.
Ich glaube, sie meinte das politisch, Ukrainisches Fernsehen ist reine Propaganda. Aber wenn es um Tschernobyl geht, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor Zombies oder Mutanten auftauchen. Immer, wenn ich jemandem über meine Begegnungen mit Tschernobyls Tierwelt erzähle, sind die Fragen immer die gleichen: Haben sie zwei Köpfe? Leuchten sie? Leuchten Sie?
Tatsächlich fanden Forscher in den Anfangsjahren, als kontaminierter Staub alles überzogen hatte, unzählige Beispiele für die monströsen Mutationen, die man aus Horrorfilmen der 1950er Jahren erwartete: Fehlbildungen, Zwergwuchs , Riesenwuchs , seltsame Gewächse , und, ja – sogar einige leuchtende.
Aber diese Effekte wurden nur an Pflanzen festgestellt. Angriffe von Riesenblättern werden nicht so schrecklich gesehen wie das Unwesen mit dem Atom- Gehirn. In Wirklichkeit hat nach dem Unfall von Tschernobyl niemand jemals ernsthaft deformierte wilde Tiere (oder gar Zombies) gefunden. Mutierte Tiere, die in freier Wildbahn geboren werden, sterben oder werden gefressen, bevor sie entdeckt werden. Welche biologischen Auswirkungen die Strahlung auch immer auf die Individuen hatten, die Fittesten überlebten.
Tschernobyls üppige und überraschend normal aussehenden Tierwelt hat das Verständnis der Biologen über die Auswirkungen von Radioaktivität durcheinandergewirbelt. Die Vorstellung, dass aus dem weltweit größten radioaktiven Ödland Europas größtes Naturschutzgebiet geworden ist, stellt das Weltbild von jedem auf den Kopf, der hier nukleare Dystopien erwartet.
Die Nachricht ist nicht gut für alle Tiere. Viele Arten, die menschliche Gesellschaft bevorzugen – Schwalben, Störche, Tauben – verließen überwiegend die Region zusammen mit den Menschen. Auch scheinen kleine Kreaturen anfälliger für die Auswirkungen der Strahlung zu sein als große. Das mag der Grund sein, weshalb eine Studie über die Nagetiere in den 1990er Jahren in der Umgebung von Tschernobyl ein kürzeres Leben und kleinere Würfe aufwiesen als ihre Kollegen außerhalb der Zone. Hirschkäfer hatte ungleiche Hörner. Aber das hatte keinen Einfluss auf ihre Populationsgröße.
Und weil die Gesundheit der Wildtierarten in der Regel durch ihre Anzahl beurteilt wird, anstatt über den Zustand des einzelnen Tieres, gilt Tschernobyls Tierwelt als gesund. Allen Zählungen, die in der Ukraine und in Weißrussland in den letzten 27 Jahren durchgeführt wurden, zeigen eine enorme Vielfalt und Fülle an Tieren. Die vorherrschende wissenschaftliche Sicht der Sperrzone wurde die, dass es ein unbeabsichtigtes Naturschutzgebiet wurde. Diese Schlussfolgerung beruht auf der Prämisse, dass die Strahlung weniger schädlich für Wildbestände ist als wir Menschen.
In dem Bemühen, diese Ansicht in Frage zu stellen, haben Biologen Timothy Mousseau (University of South Carolina) und Anders Moller (Universität Paris) eine Reihe von Papieren veröffentlicht, dass die Populationen von Insekten, Vögeln und Säugetieren in den meisten kontaminierten Regionen Tschernobyl rückläufig seien. Sie behaupten auch, dass die Vögel es vermeiden, in hochradioaktiven Gebieten zu nisten. Gegenteilige Berichte über die Vielfalt von Tieren verweisen sie in das Reich der Fabeln..
Ihre Arbeit hat vor allem nach der nuklearen Katastrophe in Fukushima (Japan) die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen, vielleicht, weil es so gut mit der Zombie-/ Mutanten- Erwartung passt.
Eine Phalanx von Experten für Umweltradioaktivität hat jedoch die Methoden und Schlussfolgerungen von Mousseau und Moller in Frage gestellt. Der ukrainische Co-Autor, der die Arbeit vor Ort übernommen hatte, hat ihre Artikel zurückgewiesen, in denen sie behaupten, dass Vögel die radioaktiven Gebiete meiden. Er erzählte dem Magazin Wired im Jahr 2011, dass die Experimente nie darauf ausgelegt waren, um diese Hypothese zu untersuchen.
Ein Makel der Forschungsarbeit der Wissenschaftler ist, dass sie den unpassendsten Ort untersucht haben. Moller und Mousseau behaupten, dass die größten negativen Auswirkungen auf die Wildbestände in Tschernobyl "an den am stärksten kontaminierten" Orten bestünden – die Verwendung des Plurals suggeriert, sie hätten viele Stellen untersucht. Während die Sperrzone von Tschernobyl viele "sehr belastete" Gebiete umfasst, enthält sie fünf "am stärksten kontaminierten" Reviere. Sie aber untersuchten daraus nur eine Stichprobe , die Roten Wald, eine Kiefernwaldfläche, der rot leuchtete, weil die hohe Strahlung das Chlorophyll zerstört hatte. Der Rote Wald war niedergewalzt, mit Sand überschüttet und es wurden neue Kieferbäumchen angepflanzt. Es ist einer der wenigen Orte, an denen man noch Pflanzenmissbildungen wie kurz nach der Katastrophe sehen kann. Die jungen Bäume sind klein und verkümmert, ähnlich wie verrückt verdrehte Büsche.
Die Fläche sieht überhaupt nicht wie ein natürlicher Kiefernwald aus. Die Vögel, von denen Mousseau und Moller behaupten, sie würden radioaktive Bereiche meiden, meiden eigentlich einen wirklich bizarr aussehenden Lebensraum. Es ist kaum möglich, um Tschernobyl einen Bereich zu finden, an dem es garantiert weniger Tiere gibt als diesen. Dann darauf zu verweisen, dass die wenigen Tiere im Roten Wald stellvertretend für die verbleibenden 99,098 Prozent des Sperrgebiets seien, ist so, als würde man behaupten, dass die Zahl der Tiere im Yellowstone- National Park abnimmt, weil man nur wenige Spinnen auf dem Parkplatz gefunden hat.
Tief im Inneren der Zone , wo die anderen "am stärksten kontaminierten" Bereiche sind und keine Menschen leben, gibt es in Belarus ein wieder entstandenes Moor, wo ich einmal eine erstaunliche Vielzahl von Enten, Reihern, Schwänen und ganz seltene Schwarzstörche in einer heiseren , kreischenden Wolke aufstieben sah, während ein Elch uns von der anderen Seite der Straße beobachtete. Der Hlyboke-See, der bei weitem radioaktivste Wasserweg der Welt, ist ein anderer "am stärksten kontaminierter" Ort. Dort entdeckte ich bei einem Besuch einen Birkhahn, eine Herde Rebhühner und drei Rehe innerhalb einer Stunde. Eine Studie ergab 2011, dass die Artenvielfalt dort größer ist als in jedem anderen See bei Tschernobyl.
Mousseau räumte in einer E-Mail ein, dass "es durchaus möglich ist, dass es mehr Tiere in den radioaktiven Bereichen" außerhalb der Orte gibt, die er und Moller untersucht haben. Aber er sagte gegenüber der New York Times, dass "insgesamt ein Mythos sei, zu behaupten, dass die Häufigkeiten von Tieren in der Sperrzone von Tschernobyl größer sei." Und per E-Mail fuhr er fort zu behaupten , wie er es viele Male tat, dass niemand jemals häufiger vor Ort war tatsächlich Tiere gezählt hat – das sogar, obwohl Weißrussland von 2005 bis 2007 systematische Untersuchungen und selektive Zählungen an Tieren durchgeführt hat.
Diese Studien fanden eine Vielfalt und Fülle an Säugetieren vergleichbar mit der eines Naturschutzgebietes mit seltenen Arten wie Bären, Luchse, Fischotter und Dachs sowie ausgewilderten Herden von Wisenten und Przewalski- Pferden. Die Vielfalt an Vögeln ist noch reichhaltiger und umfasst 61 seltene Arten. Singschwäne – nie zuvor in der Region beobachtet, sind jetzt dort regelmäßig zu finden.
Mousseau sagt, sie hätten ihre Forschungsprotokolle als Reaktion auf einige ihrer Kritiker abgeändert, aber nichtsdestotrotz haben er und Moller sich nicht aus dem Roten Wald herausgewagt, um tiefer in den anderen "am stärksten kontaminierten" Orten der evakuierten Zone um Tschernobyl zu forschen. Es wäre eine Schande für die Wissenschaft, wenn sie es nicht täten, da sie zu den wenigen westlichen Wissenschaftlern gehören, die in dieser Region Forschung betreiben. Bis sie einen sinnvolleren Zusammenhang zwischen der Auswirkung der Strahlung auf die Reichhaltigkeit der Fauna finden, gelten ihre umfassenden Behauptungen über eine abnehmende Tierpopulation wirklich nur für eine sehr wenig repräsentativen Ort.
Die Kontroversen werden idealerweise zu besser konzipierte Studien anspornen, vielleicht sogar von den Kritikern. Es ist Zeit für ein erneutes Interesse an den Auswirkungen der Strahlung auf Tschernobyls Tierwelt. Mehr als ein Vierteljahrhundert sind seit dieser Katastrophe vergangen. Fukushima hat uns gezeigt, es wird in der Zukunft noch weitere geben.
Wenn wir Entscheidungen über eine neue, intelligente Energieversorgung (smart energy) treffen wollen, muss die Wissenschaft eine Menge mehr über die Risiken lernen, welche mit der Umweltradioaktivität auf niedrigem Niveau zusammenhängen. Wir wissen noch nicht, wie sicher wirklich sicher ist. Das nukleare Ödland ist ein natürliches Laboratorium, um viele dieser Fragen zu stellen.
In der Zwischenzeit ist aber Entspannung angesagt. Tschernobyls radioaktive Kreaturen sind nicht überall – wenn wir sie weiterhin in Ruhe lassen.
Mary Mycio ist die Verfasserin des Buches Wormwood Forest: A Natural History of Chernobyl. Sie berichtete für die Los Angeles Times über die Ukraine. Ihr neuestes Buch Doing Bizness, ein Thriller über Nuklearschmuggel, ist als E-Book bei Amazon zu erhalten.
mit freundlicher Genehmigung von Mary Mycio Übersetzt von Rudolf Kohler