Gegen das Wetter sind wir machtlos
Der Wetterwacher
Christian Pfister, KlimahistorikerSeine Interessen sind so weit gestreut wie seine Forschungsthemen. Der Historiker Christian Pfister, Jahrgang 1944, leitete lange die Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte der Universität Bern. Zugleich empfahl er sich als Klimahistoriker international. Zu seinen Schwerpunkten als Autor und Forscher gehören die gesellschaftliche Dimension der Klimaveränderung und die Verkehrsgeschichte der Schweiz. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2009 arbeitet Christian Pfister als freier Forscher am Oeschger-Zentrum für Klima- und Klimafolgenforschung in Bern. Er ist mit seinem Team gegenwärtig daran, klimatische Daten über die Schweiz aus mehreren Jahrhunderten computergerecht aufzubereiten. Die Arbeit sollte im Herbst vollendet sein. (jmb.)
Innert Minuten verfinsterte sich am Donnerstag der Himmel über Biel, bevor ein halbstündiger Sturm losbrach und das Turnfestgelände verwüstete. Was denkt der Klimaforscher bei solchen Nachrichten?
Dass das absolute Zufallsereignisse sind, die sich immer wieder ereignen.
Spinnt das Wetter, oder spinnen wir, weil wir glauben, dass das Wetter spinnt?
Ich sage Ihnen einmal, was passiert, wenn das Wetter wirklich durchdreht. Stellen Sie sich vor, es habe die letzten elf Monate kaum geregnet. Das Laub fällt mitten im Sommer von den Bäumen, das Vieh verdurstet, es brennen die Wälder. Man kann weit in den Bodensee hineinlaufen wie in einem sehr trockenen Winter, der Rhein verkommt zum Rinnsal. Das Wasser kocht.
Wann war das?
Im Jahr 1540. Eine fast einjährige Dürre von der Toskana bis an die deutsche Nordgrenze, von Frankreich bis nach Polen. Mit einem Rauchschleier über dem Kontinent, bedingt durch die brennenden Wälder, wie wir es 2010 in Russland wieder erlebten. 1588 kam dann ein Antisommer: Es regnete und stürmte an 88 von 92 Sommertagen. Die Traubenernte fand in einem Hut Platz. So einen stürmischen Sommer hätten sie noch nie erlebt, bekannten die Admirale der spanischen Armada wie der englischen Flotte, die damals im Ärmelkanal aufeinandertrafen.
Also können wir uns nicht beklagen über den kaputten Frühling und den jetzt folgenden siedend heissen Sommer.
Beklagen können wir uns immer, und wir tun das auch gerne, weil das Wetter die Leute in ihrem Gefühl eint, nichts dagegen unternehmen zu können.
Sind Temperaturstürze normal, wie wir sie jetzt erlebt haben?
Das hängt davon ab, wie wir Normalität definieren. Bezieht man sich auf eine klimatologische Normalperiode von dreissig Jahren, war die Sonnenarmut im Frühjahr aussergewöhnlich, namentlich im Mai. Klimageschichtlich gesprochen hat es solche Ausreisser immer wieder gegeben.
Was war aussergewöhnlich an diesem Frühling?
Die lange sonnenarme Zeit. Die Vegetation war erheblich verspätet, das Wetter schlug auf die Stimmung, die Leute reagierten ungehalten. Dass uns die erste Hitzewelle diesen Sommer so extrem vorgekommen ist, mag mit diesem sonnenarmen Frühling zusammenhängen. Denn die Temperaturen sind in den letzten 20 Jahren recht oft über die 30-Grad-Marke gestiegen.
Können wir uns wenigstens damit trösten, dass solche Extreme selten vorkommen?
Durchaus. 2013 könnte als Jahr ohne Frühling in die Geschichte eingehen. In der Kleinen Eiszeit von 1300 bis 1900 gab es immer wieder Jahre ohne Frühling und solche ohne Sommer, mit anhaltender Kälte und Regen.
Wie wirkt extremes oder einseitiges Wetter auf die Menschen?
Was die Leute in den vergangenen Monaten besonders deprimierte, war die Regelmässigkeit, mit der das Wetter auf das Wochenende hin umschlug. Anhaltend schlechtes Wetter macht gereizt und niedergeschlagen. Ich habe gelesen, erbitterte Leute hätten sich mit Hassmails an Thomas Bucheli abreagiert, dem Wettermann vom Schweizer Fernsehen. Auch solche Reaktionen sind nicht neu. Schon in früheren Jahrhunderten suchten die Menschen einen Sündenbock, wenn das Wetter sie fast verzweifeln liess.
Wie können Menschen am schlechten Wetter schuld sein?
War das Wetter anhaltend kalt und nass wie in unserem Frühling, wollten Betroffene Schuldige finden. Meistens waren es Frauen, die als Hexen angeklagt wurden. Oft gingen die Kläger davon aus, dass eine Verschwörung von Hexen am Werk war, die sich mit dem Teufel sexuell eingelassen hatten. Verdächtige wurden deshalb gefoltert, bis sie die Namen angeblicher Mitverschworener preisgaben, die dann ihrerseits drankamen. Ganze Gruppen von Frauen wurden schliesslich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute nimmt man an, dass zwischen 1430 und 1650 in Europa an die 60’000 Frauen als Hexen hingerichtet wurden, nicht nur, aber doch recht oft wegen Wettermachens. Es ist nicht auszuschliessen, dass man in dieser Zeit, nach einem Jahr ohne Frühling wie 2013, Hexen verbrannt hätte.
Zugleich versuchte man damals, das gute Wetter herbeizubeschwören.
Einerseits versuchte man Überschwemmungen einzudämmen, etwa durch die Verbauung von Wildbächen wie des Kriensbachs am Pilatus. Oder man führte neue Kulturpflanzen wie die Kartoffel ein, die dem Hagel weniger ausgesetzt waren als das Getreide. Dennoch blieb der Mensch dem Wetter gegenüber machtlos. Dieses Ausgeliefertsein versuchte er dadurch zu kompensieren, dass er sich an Gott wandte. Die Katholiken taten dies mit Prozessionen. Je nach Extrem pilgerte man für Regen – oder für mehr Wärme. Ein Frühling wie der unsrige jetzt hätte mit einiger Sicherheit Prozessionen für Sonne und Wärme ausgelöst. Die Protestanten halfen sich mit Gebetstagen. Beten war ihr Mittel gegen das Schicksal, das Wetter hiess.
Stellt diese Ritualisierung den Versuch dar, die Angst durch eine magische Handlung zu bannen?
Absolut. Nachgewiesen ist es bei den spanischen Wetterprozessionen. Wobei nicht nur die Angst gebannt werden sollte. Solche Veranstaltungen dienten auch dazu, die Menschen zu kontrollieren, indem man sie in eine Gemeinschaft einband. Es galt zu verhindern, dass sie randalierten. Es bestand durchaus Grund zur Panik, denn das Wetter stand in direktem Zusammenhang mit dem Überleben. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mussten Arbeiter und Bauern bis zu 60 Prozent ihres Lohns für das Essen ausgeben. Fiel die Ernte schlecht aus, schossen die Lebensmittelpreise in die Höhe, und die Reallöhne fielen.
Das religiöse Ritual als Mittel gegen Ausschreitungen?
Die Prozessionen und Gebetstage wurden mit Einschränkungen von Lustbarkeiten verbunden. Mit den Glaubenskonflikten vom 16. Jahrhundert an wurden Dürre und Flut als Ausdruck von Gottes Zorn gedeutet. Also galt es alles einzudämmen, was gegen Gottes Gebote verstiess. Dazu gehörten Musik, Tanz und anderes, was den Menschen Freude machte. Dadurch suchte man den zürnenden Gott zu besänftigen.
Wie werden Hochkulturen durch das Klima begünstigt?
Ein günstiges Klima erlaubte es, mehr Menschen von körperlicher Arbeit auf den Feldern zu befreien und ihnen mit Kunst und Wissenschaft ein Auskommen zu verschaffen. Es liess Städte entstehen und förderte den Aufbau eines bürokratischen Apparates, mit dem mehr Steuern eingetrieben werden konnten.
Nahm der Mensch die Natur früher als Feindin wahr?
Zumindest war er ihr ausgeliefert bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Eisenbahn aufkam. Entscheidend für das neue Naturverständnis ist nicht die industrielle Revolution, wie oft behauptet wird, sondern die Verkehrsrevolution. Dampfschiff und Eisenbahn transportierten Getreide, Fleisch und Futtermittel in grossen Mengen von den Prärien Nordamerikas nach Europa, wo sie Brot und Fleisch verbilligten. Dadurch emanzipierten sich die Menschen in Europa vom Wetter.
Wie wirkte sich diese Emanzipation eigentlich auf unser Verhältnis zum Wetter aus?
Heute nehmen wir das Wetter nur noch in seinen Extremen zur Kenntnis. Kein Zufall, dass das Reden darüber zum Inbegriff des Small Talk geworden ist, Ausdruck des Nichtssagens oder der Verlegenheit. Erst die seit 25 Jahren häufiger auftretenden Überschwemmungen haben uns in Erinnerung gerufen, dass wir für solche Ereignisse verletzlich geblieben sind. Die Schweiz wurde seit dem späten 19. Jahrhundert lange Zeit von Naturkatastrophen weitgehend verschont. Das wird als Katastrophenlücke bezeichnet. Erst der sogenannte Dreizack der Jahre 1986 und 1987 – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die Verschmutzung des Rheins durch den Brand der Sandoz-Fabrik in Schweizerhalle und schliesslich die Hochwasser im August 1987 – brachte diesbezüglich ein Umdenken.
Unter der Hitze leiden ältere Menschen besonders. Nur nimmt man es nicht speziell wahr.
Ja, das war sozusagen die stille Katastrophe im Hitzesommer 2003. Man geht davon aus, dass in Europa gegen 70 000 betagte und hochbetagte Menschen an Dehydrierung starben, weil sie nicht rechtzeitig merkten, dass sie wegen der Hitze viel mehr hätten trinken sollten.
Wie ist es zu erklären, dass beim Wechsel der Jahreszeiten Erinnerungen an die Kindheit hochkommen?
Ich denke, das hat mit der Wiederkehr vertrauter Gerüche und Geräusche zu tun. Etwa, wenn die erste Amsel im Frühjahr singt, wenn der heisse Asphalt nach einem Gewitter dampft oder der erste Schnee in der Luft liegt. Wenn ich den Schrei der Mauersegler höre, weiss ich, dass der Sommer da ist. (Tages-Anzeiger)
Übernommen von der Basler Zeitung vom 22.6.13