Besorgnisse eines Naturwissenschaftlers über die deutschen „Vorreiter“

1. Eher politische Vorbemerkung
Ich will nachfolgend aufzeigen, dass die deutschen Meinungseliten sich bei vielen der Themen als Vorreiter verstanden und verstehen, obwohl immer wieder teils schwerwiegende Fehleinschätzungen aufgezählt sind. Neuerdings werden hierzulande gar schwer zu korrigierende Fehlentwicklungen eingeleitet, die dringend Kursänderungen nötig machen. Ich  beobachte mit großer Sorge, dass die politischen und medialen Wortführer eine ungewöhnlich negative Haltung zu Technik, Naturwissenschaft und Industrie einnehmen. Nahezu jede neue wissenschaftlich-technische Entwicklung wird zunächst abgelehnt. Dies steht in krassem Wiederspruch zur selbstverständlichen und ungehemmten Inanspruchnahme technischer Leistungen und technischen Komforts jeder Art, dies gerade auch von ihren Kritikern (z. B. Kommunikationstechnik, Verkehr, Versorgung mit sauberem Trinkwasser, preiswerter Nahrung, Energie, Gesundheitssystem usw.).
Tiefgreifende Entscheidungen der „Vorreiter“ wie z. B. die deutsche Energiewende bleiben aus meiner Sicht fachlich und sachlich völlig unerklärt. Ohne überzeugende Begründung wird von Politikern (= Lehrer, Gesellschaftswissenschaftler, Juristen, Theologen, einige wenige Wirtschaftsfachleute) stattdessen der Auftrag an Naturwissenschaft, Technik, Energieerzeuger erteilt, die Sache schnellstmöglich zu realisieren. Äußern die so Beauftragten Bedenken, werden sie sogleich als „Hintertreiber des an sich Möglichen, und dies natürlich aus Profitgründen“ öffentlich gebrandmarkt. Hier sei Altbundeskanzler Helmut Schmidt zitiert, der kürzlich im ZDF-Interview auf die Frage nach der Ernergiewende präzis wie immer antwortete: “Voreilig!“.
Wichtige Zukunftsbereiche wurden und werden gegen die Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik behindert oder verboten, um sich den vorwiegend deutschen Zeitströmungen anzudienen (zunächst die Gentechnik generell, aktuell die grüne Gentechnik). Die politisch Korrekten begründen ihre Entscheidungen, wenn überhaupt, moralisch-ethisch und beanspruchen (fatalerweise) wieder einmal eine Vorreiterrolle für Deutschland. Dies mutet inzwischen recht überheblich und auch ideologisch an. Ob postulierte Risiken tatsächlich existieren und wirtschaftliche Folgen der Entscheidungen tragbar sind, muss offenbar sachlich-fachlich gar nicht mehr begründet werden.
Ich möchte mich mit diesem Beitrag in die Diskussion von Themen einmischen, die für das Industrieland Deutschland immense Bedeutung haben. Ich bin überzeugt, dass ein überwiegender Teil unserer technisch-naturwissenschaftlich Gebildeten eine ähnliche Haltung einnimmt, aber nicht gefragt und nicht gehört wird. Dabei ist dieser Teil unserer Gesellschaft schließlich nicht nur stark involviert in die technisch-naturwissenschaftliche (Weiter-)Entwicklung unseres Landes. In ihren Reihen ist auch ein wesentlicher Teil der Wissens- und Erfahrungsträger versammelt, ohne deren Arbeit der Wohlstand in Deutschland schnell verloren ginge.
2. Mehr inhaltliche Begründung
Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler und Ärzte sind bisher stille Garanten für die Schaffung und Erhaltung unseres Wohlstandes, für die komfortablen Lebensbedingungen in Deutschland und auch für die stetig wachsende Gesundheit und Lebenserwartung unserer Bevölkerung. Das alles basiert auf der Beherrschung, Anwendung und Verfügbarkeit von Technik und Naturwissenschaft in ihrer ganzen Breite. Das Gleiche gilt für freie Forschungsarbeit und Umsetzung von Forschungsergebnissen. Auch bei uns sind es schließlich Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler, Ärzte sowie eine vorwiegend mittelständische Unternehmerschaft, die für sauberes Trinkwasser; (bisher) sichere Energieversorgung; reine Luft; klare Gewässer, hohe Hygienestandards sorgen. Die hier erreichten Standards suchen in der Welt ihresgleichen.
Wenn viele dieser Berufsgruppen eher diskreditiert als gefördert werden (Chemie ist Gift, neue Techniken sind gefährlich und unnötig, Industriekonzerne beuten Menschen aus, nur Natur ist gut), werden wir bald an Wohlstand, an Wettbewerbsfähigkeit auf den noch erlaubten Entwicklungsgebieten und auch an Ansehen verlieren, weil der Nachwuchs fehlt. Selbst hohe Umweltstandards sind nicht mit Demonstranten, sondern nur über Spitzentechniken zu realisieren.
Ich möchte auch klar aussprechen, dass die durchweg abschätzige Haltung der politischen und medialen Öffentlichkeit gegenüber modernen technischen Entwicklungen unserem Land große Schäden zugefügt hat und dies gegenwärtig verstärkt fortsetzt. Gefahren, Katastrophen, Risiken für Leib, Leben und besonders gern für die natürliche Umwelt werden hierzulande allzu leicht von solchen gesellschaftlichen Gruppen beschworen, die sich nicht um sachliche Begründungen kümmern, sondern einfacherweise den zuvor selbst erzeugten Zeitgeist dafür heranziehen.
An besonders eklatanten Fehlleistungen aus der Vergangenheit soll aufgezeigt werden, welche deutschen Irrungen und Wirrungen jeweils als unabdingbar dargestellt wurden, sich aber sachlich und fachlich immer als falsch und wirtschaftlich als ruinös herausstellten.
3. Beispiele für unglaubliche Fehlentwicklungen
Die enormen medizinischen Fortschritte der „roten Gentechnik“ wurden zunächst ohne deutsche Beteiligung erreicht, weil solche Forschung und Entwicklung politisch intensiv behindert wurden (z. B. durch Verbot der Produktion von rekombinantem Human-Insulin). Jahre später rief der damalige Bundesforschungsminister Riesenhuber zur „Aufholjagd“ in Deutschland auf, obwohl wir ursprünglich an der Spitze dieser Forschung standen. Der Rückstand war und ist nur mühsam wettzumachen. Eine ähnliche Fehlentwicklung wird die aktuelle Verhinderung von Forschung und Entwicklung auf dem sehr wichtigen Gebiet der grünen Gentechnik zeitigen, wiederum mit vielen Nachteilen für Deutschland (siehe z. B. die empörte Reaktion der Nobelpreisträgerin Nüsslein-Vollhard in dieser Sache ).
Eine weitere sehr kritisch zu bewertende Entscheidung der politischen Vorreiter in Deutschland ist die „Energiewende“. Wissenschaftlich-technisch gesehen ist es barer Unsinn, die Kernenergie als „nicht beherrschbar“ zu verteufeln. Die deutschen Kernkraftwerke belegen seit 50 Jahren das Gegenteil. Und der weltweite Ausbau der Kernenergie ist auch keine Ausgeburt der Dummheit aller Nicht-Deutschen. Wirtschaftlich verursacht der Ausstieg aus der Kernenergie eine kaum zu überschätzende Schwächung der deutschen Industrie, weil elektrische Energie in Deutschland ununterbrochen teurer wird. Die Endlagerfrage wird weltweit immer unwichtiger, weil durch Transmutation abgebrannte Kernbrennstoffe zur weiteren Energiegewinnung genutzt werden können und nur eine ganz geringe Reststrahlung von Kernbrennstoff zurückbleibt. Die nötige Aufbereitungstechnik wird schon bald einsatzbereit sein (wieder ohne deutsche Beteiligung). In unserem Land wird stattdessen von nicht informierten, fanatischen Eiferern demonstriert, die Medien agieren als Verstärker dieses Treibens und setzen die Bevölkerung unsinnig in Angst und Schrecken. All dies kostet viel Volksvermögen, das bei der kontinuierlichen Verbesserung der Lebensbedingungen, der natürlichen und technisch-zivilisatorischen Umwelt, aber auch beim Ausbau der sozialen und kulturellen Errungenschaften unseres Landes weit besser angelegt wäre.
Weiteres Beispiel: Wenn in Deutschland vorhandene Erdgasvorräte durch Fracking gewonnen werden sollen, entsteht sogleich ein medialer und politischer Sturm gegen solches Ansinnen. Deutsches Grundwasser darf auf keinen Fall durch Chemikalien verunreinigt werden! Abgesehen davon, dass hier wieder populistisch argumentiert wird: Dies fordern die gleichen Menschen, die gut beheizte Wohnungen, Flugreisen in warme Urlaubsgebiete, energiesparende Wärmedämmung möglichst vieler Häuser usw. für absolut in Ordnung halten. Sie realisieren dabei nicht, dass die fossilen Energieträger dafür in anderen Ländern aus der Erde geholt werden, deren Grundwasser-Reinheit  offenbar nicht wichtig ist.  (Kann leicht um weitere Beispiele erweitert werden!)
Über den Autor:
Prof. Dr. Hans Hoffmeister wirkte an maßgeblicher Stelle an vielen Programmen und Lehr- sowie Forschungseinrichtungen für das Gesundheitswesen mit. Seine Sorge gilt der Entwicklung und Unabhängigkeit der Wissenschaft, sowie der medial geschürten Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit in diesem Lande.
Einige Stationen seines Wirkens waren:
1960 bis Gegenwart        
Umfangreiche wissenschaftliche Tätigkeit auf den Gebieten Biochemie, klinische Chemie, Epidemiologie, Präventivmedizin, Sozialmedizin, Zellbiologie, Biotechnologie. Z. B.: Durchführung der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventions-Studie, deren Mitinitiator und Sprecher.
Projektleiter mehrerer Bundesstatistiken und epidemio-logischer Großstudien (Nationale Gesundheits-Surveys, bundesdeutsche Krebsregister, Hessen-Studie, Nordenham-Brake-Studie)
Publikation von über 300 wissenschaftlichen Arbeiten; Autor, Herausgeber oder Mitherausgeber von etwa 30 Büchern
Speziell:
1976:
Programm der Bundesregierung „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit“ wird gestartet/in Kraft gesetzt. Gemeinsames Programm von Gesundheits-, Arbeits- und Forschungsministerium. Inhaltliche Ersterstellung des Programms sowie Texte weitgehend von H. Hoffmeister, als Institutsleiter d. Inst. Soz. Ep. des BGA. Zwei weitere Fortschreibungen des Programms (1979, 1982) werden ebenfalls weitgehend von H. Hoffmeister betreut/verfasst.
1980:
Abkommen zwischen US-Regierung und Bundesregierung zur Zusammenarbeit auf biomedizinischem Gebiet wird geschlossen. Beim ersten Meeting in USA ist  Detlef Ganten Delegationsleiter. Ab dem 2. Treffen in den USA wird diese Funktion von H. Hoffmeister über etwa 10 Meetings in USA und Deutschland wahrgenommen/organisiert. US-Seite: Leiter NHLBI, Dr.Claude Lenfant, Bethesda, NCHS, Dr. Manning Feinlieb, Bethesda
1980:
Vorstudien zur Deutschen Herzkreislauf-Präventionsstudie (DHP) beginnen. Federführung bei der Erstellung des Studienhandbuchs/Texte: H. Hoffmeister.
Nach Start der DHP-Hauptstudie 1983 ab 1984 bis 1996 H. Hoffmeister immer wieder gewählter Sprecher dieser multizentrischen Studie (finanziert mit etwa 100 Mill. DM vom BMFT).
1988:
H. Hoffmeister: Sachverständiger/Berichtersteller Enquete-Komission des Deutschen Bundestages „Demographischer Wandel“
1989:
H. Hoffmeister: Vertreter der Bundesregierung in der Kommission der WHO zur Bekämpfung von Herzkreislaufkrankheiten
1987:
Festakt des Bundesministeriums für Gesundheit im Reichstag, Berlin. „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“. Wissenschaftlicher Festvortrag: H. Hoffmeister. Abendfest im Schloss Bellevue (S. Hoffmeister: Musik), Ministerin U. Lehr.
1995:
Großer Gesundheits-Kongress des Bundesministeriums für Gesundheit, Bonn, mit allen relevanten Institutionen des Deutschen Gesundheitswesens (ÄK, KV, Ärzteorganisationen, Kassen, wiss. Institutionen). Amtsauftakt /Grundsatzrede Minister Seehofer, Reden Staatssektretäre BMA/BMFT. Wissenschaftlicher Eröffnungsvortrag: H. Hoffmeister