Schiefergas und Geopolitik
Aber es gibt noch eine andere Wahrheit: Die Wirklichkeit großer, unpersönlicher Kräfte wie Geographie und der Umwelt, die ebenfalls über die Zukunft menschlicher Ereignisse bestimmen. Afrika war historisch größtenteils wegen nur weniger guter natürlicher Häfen und weniger schiffbaren Flüssen aus dem Inneren zur Küste arm geblieben. Russland ist paranoid, weil deren Landmasse offen für Invasionen ist, gibt es doch dort nur wenige natürliche Barrieren. Die Scheichtümer am Persischen Golf sind nicht wegen ihrer Ideen außerordentlich wohlhabend, sondern wegen großer Energievorräte im Untergrund. Sie verstehen, was ich meine. Intellektuelle konzentrieren sich darauf, was sie ändern können, aber hinsichtlich des Veränderns dessen, was passiert, sind wir hilflos.
Jetzt kommt Schiefer ins Spiel, ein Sedimentgestein, in dem Erdgas eingeschlossen werden kann. Schiefergas stellt eine neue Quelle ausbeutbarer Energie für die post-industrielle Welt zur Verfügung. Länder, die über größere Schieferlagerstätten verfügen, werden im 21. Jahrhundert im zwischenstaatlichen Wettbewerb besser dastehen und Länder ohne solche Lagerstätten schlechter. Ideen helfen in dieser Hinsicht kaum weiter. Stratfor hat diese Angelegenheit zufälligerweise lang und breit untersucht. Hier folgt meine eigene Analyse, teilweise beeinflusst von der Forschung von Stratfor.
Schauen wir also, wer über Schiefer verfügt und wie dieser Schiefer die Geopolitik verändern kann. Weil die Zukunft sehr stark von dem beeinflusst wird, was im Untergrund liegt.
Die USA verfügen über riesige Vorkommen von Schiefergas, wie sich gezeigt hat: in Texas, Louisiana, North Dakota, Pennsylvania, Ohio, New York und anderswo. Egal welche der vielen politischen Entscheidungen getroffen werden, Amerika ist als Energiegigant des 21. Jahrhunderts prädestiniert. Im Besonderen ist es an der Golfküste um die US-Bundesstaaten Texas und Louisiana zu einem Schiefergas- und –ölboom gekommen. Diese Entwicklung wird die Karibik zu einem ökonomischen Brennpunkt der westlichen Hemisphäre machen, unterstützt durch die für 2014 geplante Erweiterung des Panama-Kanals. Gleichzeitig wird sich die Zusammenarbeit zwischen Texas und dem benachbarten Mexiko intensivieren, da Mexiko zunehmend ein Markt für Schiefergas ist mit seinen eigenen ausgebeuteten Schieferbecken nahe seiner nördlichen Grenze.
Teilweise sind dies für Russland besorgliche Nachrichten. Russland ist gegenwärtig Europas Energieriese, der Erdgas in großem Umfang nach Westen exportiert, was Moskau in ganz Mittel- und vor allem Osteuropa enormes politisches Gewicht verleiht. Allerdings liegen Russlands Reserven vielfach in Sibirien, wo die Ausbeutung schwierig und teuer ist – obwohl Russlands einst veraltete Fördertechnologie inzwischen deutlich modernisiert worden ist. Und Russland muss derzeit keinen wesentlichen Wettbewerb in Europa fürchten. Aber was ist, wenn die USA eines Tages in der Lage wären, Erdgas nach Europa zu wettbewerbsfähigen Preisen zu liefern?
Die USA verfügen immer noch über nur wenige Möglichkeiten, Erdgas nach Europa zu exportieren. Man müsste dort neue Verflüssigungsanlagen bauen, um das zu tun; mit anderen Worten, man müsste Fabriken am Golf von Mexiko errichten, die Erdgas verflüssigen, so dass es per Schiff über den Atlantik transportiert werden kann. In Europa würde es dann wieder in Erdgas zurückverwandelt. Mit Kapitalinvestitionen, Erfahrung und unterstützender Gesetzgebung wäre das durchaus machbar. Länder, die sich solche Möglichkeiten erschaffen, haben mehr Energie-Optionen, je nach Lage der Dinge für Export oder Import. Man stelle sich also eine Zukunft vor, in der die USA verflüssigtes Schiefergas nach Europa exportieren, was die Abhängigkeit der europäischen Länder von russischer Energie verringern würde. Die Geopolitik in Europa könnte sich um Einiges verschieben. Erdgas wird als politisches Instrument immer weniger taugen und nur noch wirtschaftlich von Bedeutung sein (obwohl eine solche nicht so ohne Weiteres zu habende Verschiebung den Export von Schiefergas von Nordamerika nach Europa in sehr großem Umfang erfordern würde).
Weniger Abhängigkeit von Russland erlaubt die Vision eines wirklich unabhängigen, kulturell pulsierenden Mittel- und Osteuropa, das in vollem Umfang aufblühen kann – seit Jahrhunderten ein Ideal der europäischen Intellektuellen, selbst wenn gute Ideen damit wenig zu tun haben.
Dies könnte vor allem für Polen gelten. In Polen gibt es große Lagerstätten von Schiefergas. Falls die polnischen Schieferlagerstätten sich als die größten in Europa erweisen sollten (ein sehr großes „falls“), könnte Polen zu einem eigenständigen Energieerzeuger werden, was dieses flache Land mit keinen natürlichen Verteidigungsbarrieren im Westen und im Osten – im 20. Jahrhundert sowohl von Deutschland als auch Russland zeitweise annektiert – zu einem Dreh- und Angelpunkt im 21. Jahrhundert machen. Die USA wiederum, wegen seiner eigenen Energieressourcen nicht mehr so abhängig von Öl aus dem Nahen Osten (einschließlich Erdgasfunde), könnten sich auf Polen bei der Aufrüstung als eine befreundete Macht konzentrieren, selbst wenn das zum Verlust substantieller Interessen in Saudi-Arabien führt. Die immensen Lagerstätten von Öl und Erdgas auf der Arabischen Halbinsel, Irak und Iran werden den Nahen Osten noch Jahrzehnte lang zu einem wesentlichen Energieexporteur machen. Aber die Schiefergas-Revolution wird die Versorgung der Welt mit Kohlenwasserstoffen komplizieren, so dass der Nahe Osten Einiges von seiner Bedeutung verlieren könnte.
Wie sich gezeigt hat, verfügt auch Australien über neue große Vorkommen von Erdgas, das sich, falls die Verflüssigung technisch möglich ist, zum größten Energieexporteur nach Ostasien entwickeln könnte unter der Voraussetzung, dass die Kosten für die Erzeugung signifikant gesenkt werden können (was sich als sehr schwierig erweisen könnte). Weil Australien schon jetzt anfängt, sich zum verlässlichsten Militär-Alliierten der USA in der Anglosphäre zu entwickeln, könnte die Allianz dieser beiden großen Energieerzeuger den westlichen Einfluss in Asien weiter zementieren. Die USA und Australien würden die Welt untereinander aufteilen: nach alter Sitte, versteht sich [after a fashion, of course]. Falls die Ausbeutung unkonventioneller Erdgasvorkommen irgendetwas damit zu tun hat, wäre die so genannte Post-Amerika-Welt tatsächlich genau das.
Die geopolitische Erstarkung Kanadas – ebenfalls das Ergebnis von Erdgas und Erdöl – könnte diesen Trend verstärken. In der kanadischen Provinz Alberta gibt es riesige Erdgas-Lagerstätten, welches künftig durch noch zu bauende Pipelines nach British Columbia fließen könnte, von wo es mit den Einrichtungen zur Verflüssigung nach Ostasien verschifft werden könnte. Währenddessen könnte Ostkanada der Profiteur neuer Erdgaslagerstätten sein, die sich über die Grenze bis in die nordöstlichen Staaten der USA erstrecken. Folglich würde die Entdeckung neuer Energieressourcen die beiden nordamerikanischen Länder noch enger zusammen schweißen, selbst wenn Nordamerika und Australien auf der Weltbühne immer mächtiger werden.
In den inneren Provinzen Chinas gibt es ebenfalls signifikante Erdgasvorkommen. Weil man in Peking nur wenig durch Regulationen belastet ist, könnte das Regime das Land enteignen und die notwendige Infrastruktur aufbauen. Das würde die Energieknappheit in China um Einiges erleichtern und hilfreich für Pekings Strategie sein, das zurück gehende küstennah orientierte Wirtschaftsmodell zu kompensieren.
Die Länder, die vermutlich unter einer Schiefergas-Revolution leiden würden, wären Binnenstaaten, politisch instabile Ölerzeuger wie Tschad, Sudan und Südsudan, deren Kohlenwasserstoffe deutlich an Wert verlieren könnten, wenn diese anderen Energiequellen ins Spiel kommen. Vor allem China könnte zukünftig jedes Interesse daran verlieren, in diesen armen Hochrisikostaaten aktiv zu sein, wenn es selbst in seinem Inneren ausreichend Schiefergas zur Verfügung hat.
Ganz allgemein wird das Aufkommen von Schiefergas die Bedeutung der Geographie hervorheben. Welche Länder haben Schiefer im Boden und welche nicht? Das wird die Machtbalance zu bestimmen helfen. Und weil Schiefergas in flüssiger Form über die Ozeane transportiert werden kann, haben Staaten mit einer Küstenlinie Vorteile. Wegen der Technologie zur Schiefergas-Erschließung wird die Welt kleiner werden, aber das lässt den Wert der Geographie eher weiter zu- als abnehmen.
Robert D. Kaplan Chief Geopolitical Analyst
Link: http://www.stratfor.com/weekly/geopolitics-shale#ixzz2Fa5msNE0
Übersetzt von Chris Frey EIKE