Nachhaltige Entwicklung? – Die Welt gehört den Lebenden!
Der Besuch im Vergnügungspark endete vor der lebensgroßen Figur des Mammuts. “Lebensgroß” bedeutet in diesem Fall nichts anderes als “ziemlich groß”, also beeindruckend. Der Gestalter hatte sich alle Mühe gegeben, denn immerhin wissen wir heute genau, wie Mammuts einmal ausgesehen haben. Und im Gegensatz zu all den vielen Dinosauriern, deren lebens- also ziemlich große Nachbildungen der Park ebenfalls zu bieten hatte, waren Mammuts einmal unsere Zeitgenossen. Das erklärt die Faszination, die diese Tiere auf uns ausüben. Und ebenfalls im Gegensatz zu den Dinosauriern gibt es zumindest Indizien, die das Aussterben dieser großen Landsäugetiere mit dem Menschen, mit den Fertigkeiten steinzeitlicher Jäger, in Verbindung bringen. Die Figurengruppe im Vergnügungspark, die nicht nur aus dem gigantischen Rüsseltier, sondern auch aus unseren fellbedeckten, mit Speeren herumfuchtelnden Vorfahren besteht, bildete einen merkwürdigen Kontrast zu den Horden lärmender Kinder und staunender Eltern, die sie betrachteten.
Dieser Kontrast verdeutlicht das Scheitern des Prinzips der “nachhaltigen Entwicklung”.
Unsere gegenwärtigen Bedürfnisse, so dieses Prinzip, sollen wir auf eine Art und Weise erfüllen, die die Fähigkeit künftiger Generationen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht einschränkt. Für sich genommen bietet diese Vorgabe keinerlei Entscheidungskriterium. Denn erstens kennen wir die Bedürfnisse zukünftiger Generationen nicht – und zweitens nicht deren Fähigkeiten.
Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung ergibt nur dann einen Sinn, wenn es in den Kontext seiner Entstehung gestellt wird. Und dieser Kontext ist die Vorstellung prinzipiell unüberwindlicher Grenzen, denen wir durch unsere Lebensweise bedrohlich nahekommen.
Es scheint ja naheliegend: Die Erde hat eine definierte Größe. Ihre Oberfläche und das, was sich auf ihr so tummelt, ihr Volumen, und das, was man darin so findet, sind tatsächlich von endlicher Menge. Die Vorstellung, daß uns dies einmal Probleme bereiten könnte, ist mindestens so alt wie die industrielle Revolution. Und diese Idee der Begrenzung unserer Möglichkeiten wurde in den 1970er Jahren so populär, daß sie in die Formulierung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung in den 1980ern und dessen Implementierung als grundlegendes politisches Dogma in den 1990ern mündete. Heute gibt es im deutschen Bundestag keine Partei mehr, die sich in ihrer Programmatik gegen diesen Ansatz wendet.
Für das Mammut kam diese Entwicklung etwas zu spät.
Dabei mag es eine große Bedeutung für nomadische menschliche Gesellschaften gehabt haben. Es lieferte nicht nur Fleisch, sondern vom Fell über Elfenbein bis zu den Knochen allerlei Materialien zur Anfertigung einer Vielzahl nützlicher Artefakte. Man kann durchaus eine besondere Abhängigkeit umherziehender Stammesverbände vom Mammut annehmen. Die Vorstellung, das Mammut könnte einmal nicht mehr existieren, wird vielleicht zu den Schreckensszenarien gehört haben, die sich unsere Vorfahren vor zehntausenden von Jahren in dunklen Stunden ausgemalt haben. Sich nachhaltig zu entwickeln, hätte für den Steinzeitmenschen bedeutet, das Mammut auf jeden Fall zu erhalten. Es nicht so intensiv zu bejagen, wie möglicherweise geschehen, damit es auch seinen Nachkommen weiterhin zur Verfügung steht.
Es ist anders gekommen: Das Mammut ist nicht mehr – und dies ist heute völlig ohne Belang.
Tatsächlich ist zu konstatieren: Zu keinem Zeitpunkt in ihrer Geschichte hat sich die Menschheit nachhaltig entwickelt. Immer wurden natürliche Ressourcen ausgebeutet und genutzt, um aktuelle Bedürfnisse zu befriedigen – ohne jede Rücksicht auf nachfolgende Generationen. Und zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte wäre ein Leben auf der Grundlage des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung aus heutiger Sicht sinnvoll gewesen.
Was hätte ein Römer denn als wichtig genug erachten können, um es für die Nachwelt zu erhalten? Was ein Mensch des Mittelalters? Und was ein Zeitgenosse der beginnenden Neuzeit? Felle (für Kleidung), Bienenwachs und Walöl (für die Beleuchtung), Pferde und Ochsen (für Transportzwecke), Holzkohle (für die Eisenverhüttung), Pergament (für die Kommunikation)? In Wahrheit könnte man alle diese Ressourcen heute immer noch in beliebiger Menge bekommen – nur werden sie nicht mehr gebraucht (jedenfalls nicht für ihren ursprünglichen Zweck). Bei mir findet sich von all dem aktuell nur ein kleiner Vorrat Holzkohle – zum Grillen.
Es gibt – und das ist der zweite Aspekt dieser kurzen Liste – keine einzige Ressource mit Bedeutung zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte, die heute deswegen nicht mehr vorhanden wäre. Noch nie haben wir irgendetwas vollständig und unwiderruflich verbraucht. Es ist auch alles noch da, was das Mammut zu bieten hatte: Elfenbein, Knochen, Fleisch und Fell. Die Steinzeit – und dieser Satz ist so banal wie alt wie richtig – ist eben nicht aus einem Mangel an Steinen beendet worden.
Man kann sein Verhalten nicht an der Zukunft ausrichten, da man diese nicht kennt. Die Anhänger der nachhaltigen Entwicklung sehen dies natürlich anders. Sie glauben die Zukunft ganz genau zu kennen. Sie sind davon überzeugt, die Menschheit wäre an einem singulären, besonderem Punkt ihrer Entwicklung angelangt. Am Ende eines Weges, der tatsächlich von einer hohen Mauer begrenzt würde, die man nicht überwinden könne. Es gälte, so die Forderung, anzuhalten oder gar den Weg wieder ein Stück zurückzugehen, um nicht aufzuprallen. Tatsächlich ist diese Vorstellung so alt wie die Menschheit selbst. Noch jede Gesellschaft hat sich selbst als Ende und Höhepunkt einer Entwicklung gesehen, noch jede Gesellschaft hatte keine kluge Idee von dem, was nach ihr kommen könnte. Und bislang haben sich all die angenommenen Mauern als reine Phantasieprodukte herausgestellt, die nur in den Köpfen (einiger) Menschen, nicht aber in der Realität vorhanden waren.
Vor diesem Hintergrund ist das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung in Wahrheit nur Ausdruck von Hybris und Phantasielosigkeit. In einer Politik, die diesem Prinzip folgt, manifestiert sich ein Mangel an Vorstellungsvermögen. Mehr nicht. Die Anhänger der nachhaltigen Entwicklung glauben die Zukunft zu kennen – aber sie vergessen darüber die Vergangenheit.
Auf die Frage, warum denn genau die aktuelle Epoche der Menschheitsgeschichte eine gegenüber unseren Vorfahren grundlegende Verhaltensänderung erfordert, hat Hans-Joachim Schellnhuber jüngst in einem Essay für die FAZ eine interessante, durchaus neue und bedenkenswerte Antwort gegeben: Weil wir es (erst) heute können. Natürlich ist ihm die oben ausgeführte Argumentation geläufig: Wäre man dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung im 18. Jahrhundert bereits gefolgt, hätte es die industrielle Revolution nie gegeben. Und der Wohlstand, der gegenwärtig Milliarden Menschen ernährt (und alle möglichen anderen Bedürfnisse befriedigt) wäre niemals möglich gewesen. Darauf entgegnet er sinngemäß, natürlich wäre die industrielle Revolution gut und sinnvoll gewesen. Denn durch sie erst hätten wir überhaupt die Fähigkeit entwickelt, heute eine nachhaltige Lebensweise zu wählen.
Mit anderen Worten: Allein die nicht-nachhaltige Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte hat in dieser Argumentation die Möglichkeit geschaffen, (gedachten) Gefahren für unsere weitere Entwicklung durch Abkehr und Umkehr aus dem Weg zu gehen. Der heutige Wohlstand erst, der sehr wesentlich auf der ungebremsten Ausbeutung nicht nachwachsender fossiler und mineralischer Ressourcen beruht, hat also Bremse und Rückwärtsgang geschaffen, durch die man den Aufprall auf die (gedachte) Mauer vermeiden könnte.
Was liegt also näher, als einfach dem bisher eingeschlagenen Weg weiter zu folgen? Auch unsere Nachfahren werden wohl an Mauern, an Grenzen der Entwicklung glauben. Es werden nur andere sein, als man heute annimmt. Unsere Bedürfnisse in der Gegenwart zu befriedigen und sich dabei nicht von Weltuntergangsphantasien stören zu lassen, kann also die Möglichkeiten unserer Nachfahren, mit den Problemen der Zukunft umzugehen (ganz gleich ob diese Phantasie oder Realität sind), nur noch weiter verbessern. Ganz so, wie die Entwicklung von Maschinen, die Nutzung der Elektrizität, die Herstellung von Kunststoffen, die Technisierung der Landwirtschaft und vieles mehr uns den Reichtum ermöglicht haben, der erst heute nach Schellnhuber eine nachhaltige Entwicklung gestatten würde.
Sich auf diese dann aber wirklich festzulegen, hieße, künftigen Generationen keine anderen Bedürfnisse zu erlauben, als wir sie heute schon haben.
Aus der Sicht unserer Nachfahren würden wir, folgten wir den Schellnhuberschen Ideen einer “großen Transformation”, genau den Fehler machen, den die Menschen der vergangenen Generationen glücklicherweise nicht gemacht haben. Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist der eigentliche Irrtum unserer Zeit, schließlich muss man nicht gleich vor jeder Mauer stoppen. Sollte sie wirklich keine Illusion sein, kann man sie auch umfahren. Oder – und das war in der Vergangenheit immer die bessere Alternative – man erhöht Geschwindigkeit und Panzerung und pulverisiere sie einfach, während man sie durchbricht.
Die junge, neue Kollegin im Büro fragte mich vor kurzem erst, was denn aus meiner Sicht so kritikwürdig am Prinzip der “nachhaltigen Entwicklung” sei. Ich antwortete wortlos aus dem Fenster zeigend. Sie verstand bemerkenswert schnell: “Ah, Sie meinen, daß die Welt noch immer existiert?” Das ist der Punkt. Es geht uns heute nicht schlechter, als vor zwei oder drei Jahrzehnten. Sondern besser. Und es geht uns sogar sehr viel besser, als den steinzeitlichen Mammutjägern. Auch ohne Mammuts. Und niemand von den Besuchern des Parks, nicht die Kinder und auch nicht die Eltern, niemand wird die folgende Nacht schlaflos vor Trauer über den Verlust dieser Elefantenart verbracht haben. Ganz im Gegenteil: Auf das Mammut nicht mehr angewiesen zu sein und nicht mehr so leben zu müssen, wie unsere Altvorderen, gefällt den Menschen. Auf den Mut der steinzeitlichen Jäger, auf ihren Erfindungsreichtum und ihre Kreativität, der es ihnen ermöglichte, sich den Gefahren ihrer Umwelt erfolgreich zu widersetzen und aus diesen sogar Vorteile zu ziehen, sollten wir heute stolz sein. Versuchen wir doch einfach, diesen Stolz auf unsere Generation auch unseren Nachfolgern zu ermöglichen.
Autor Peter Heller; mit freundlicher Genehmigung
Der Artikel erschien zuerst in NOVO hier