In den vergangenen vierzehn Tagen habe ich etwas Schlimmes entdeckt. Die Atomkraft-Nein-Danke-Bewegung, zu der auch ich einmal gehörte, hat die Welt über die Auswirkungen der Strahlung auf die Gesundheit belogen. Unsere Behauptungen waren wissenschaftlich unbegründet, völlig falsch und einer Prüfung nicht standhaltend. Wir haben uns und den anderen Menschen einen Bärendienst erwiesen.

Das Ausmaß des Problems wurde mir nach einer Debatte  mit Helen Caldicott klar. Dr. Caldicott steht in vorderster Linie der Anti-Atomkraft-Aktivisten. Sie besitzt 21 Ehrendiplome und zahllose Preise, war sogar für einen Friedens-Nobel-Preis nominiert. Wie andere Grüne habe ich sie sehr bewundert. In der Debatte stellte sie einige schreckliche Behauptungen über die Gefahren der Strahlung auf. Also habe ich getan, was jeder tun würde, wenn er mit hinterfragbaren wissenschaftlichen Behauptungen konfrontiert wird: Ich habe die Quellen befragt. Frau Caldicotts Antwort hat mich sehr erschüttert. 

Zuerst hat sie mir neun Dokumente geschickt: Zeitungsartikel, Presse-Verlautbarungen und eine Anzeige. Nichts davon waren wissenschaftliche Publikationen; nirgendwo darin befanden sich Quellen für ihre Behauptungen. Nur eine der Presse-Verlautbarungen bezog sich auf einen Bericht der US National Academy of Sciences, den sollte ich lesen. Das habe ich getan – alle 423 Seiten. Keine ihrer Behauptungen wird darin unterstützt; der Bericht widerspricht sogar stark ihren Behauptungen über die gesundheitlichen Auswirkungen von Strahlung.

Da habe ich bei ihr nachgefragt und sie hat mir eine Reihe von Antworten gegeben, die mich erschrecken ließen – in fast allen Fällen bezogen sich die Antworten auf Publikationen ohne oder mit nur geringer wissenschaftlicher Bedeutung, ihre Behauptungen werden darin nicht gestützt oder ihnen wird sogar widersprochen. (Ich habe unsere Korrespondenz und meine Quellen auf meine Webseite gestellt.) Gerade habe ich ihr Buch "Nuclear Power Is Not the Answer" gelesen. Der Mangel an Referenzen auf wissenschaftliche Papiere und die überreichlich vorhandenen unbelegten Behauptungen erstaunen mich sehr.

Während der vergangenen 25 Jahre haben die Atomkraft-Nein-Danke-Aktivisten die Zahlen der Toten und der Krankheiten nach dem Tschernobyl-Unglück immer wieder angeführt, und sie haben missgestaltete Babys wie in einem mittelalterlichen Zirkus vorgeführt. Heute behaupten sie, dass 985.000 Menschen Tschernobyl zum Opfer gefallen wären, und dass die Menschen nachfolgender Generationen noch davon hinweggerafft würden. Diese Behauptungen sind falsch.

Das UN Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) ist eine Parallelorganisation zum Intergovernmental Panel on Climate Change. Wie das IPCC verlässt es sich auf die führenden Wissenschaftler in der Welt, wertet Tausende von Papieren aus und erstellt eine Übersicht. Hier ist das Ergebnis zu den Auswirkungen von Tschernobyl: 

Von den Arbeitern, die bei der Eindämmung der Notlage in Tschernobyl eingesetzt worden waren, haben 134 ein akutes Strahlungssyndrom entwickelt, 28 verstarben bald danach. Neunzehn weitere sind später gestorben, aber nicht an Folgen der Verstrahlung. Die übrigen 87 haben andere Komplikationen erlitten, darin vier Fälle von soliden Tumoren und zwei Fälle von Leukämie.

In der übrigen Bevölkerung gab es 6.848 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern – nahezu vollständig auf das Versagen der Sowjetunion zurückzuführen, die Menschen vom Trinken von Jod 131-verstrahlter Milch zurückzuhalten. Darüber hinaus „hat es keine schlüssigen Beweise anderer gesundheitlicher Beeinträchtigungen der Bevölkerung gegeben, die auf Verstrahlung zurückgeführt werden könnten.“ Menschen, die in den heute noch betroffenen Ländern leben, „brauchen keine Angst vor ernsthaften Folgen des Tschernobyl-Unfalls zu haben“.

Frau Caldicott hat mir erzählt, die UNSCEAR-Arbeit zu Tschernobyl wäre eine "totale Vertuschung". Obwohl ich auf Klärung gedrängt habe, hat sie immer noch nicht den geringsten Beweis für diese Unterstellung geliefert.

In einem Kommentar hat der Umweltredakteur des Guardian, John Vidal, meine Position zur Kernkraft böse gebrandmarkt. Anlässlich eines Besuchs in der Ukraine im Jahre 2006 sah er „missgestaltete und genetisch mutierte Babys in den Anstalten … Heranwachsende mit Wachstumshemmung und Zwergwüchsigkeit, Fötusse ohne Hüften und Finger“. Er hat aber keine Beweise dafür gesehen, dass das mit dem Tschernobyl-Unfall zu tun hätte.

Professor Gerry Thomas, der über die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl für UNSCEAR gearbeitet hat, sagte mir, es gibt "absolut keinen Beweis" für eine Zunahme von geburtlichen Missbildungen. Das Papier der National Academy, das ich auf Drängen von Dr. Caldicott gelesen habe, kam zu gleichen Schlussfolgerungen. Man fand heraus, dass strahlungsverursachte Mutationen in Spermien und Eiern ein derart geringes Risiko sind, "dass nichts davon bei Menschen entdeckt worden ist, noch nicht einmal bei der gründlich untersuchten verstrahlten Bevölkerung von Hiroshima and Nagasaki".

Wie Vidal und viele andere hat mich Frau Caldicott auf ein Buch verwiesen, das behauptet, dass 985.000 Menschen in der Folge des Unglücks verstorben wären. Es ist aus dem Russischen übersetzt und von Annals of the New York Academy of Sciences herausgegeben worden. Es ist das einzige Werk, das wissenschaftlichen Anschein hat und es scheint die wilden Behauptungen der Grünen über Tschernobyl zu unterstützen.

Eine vernichtende Kritik im Journal Radiation Protection Dosimetry zeigt auf, dass das Buch diese Zahl erzeugt durch die erstaunliche Annahme, dass alle Zunahmen von Sterbefällen durch ein weites Spektrum von Krankheiten durch den Tschernobyl-Unfall verursacht wären, sogar solche, die in keinerlei Verbindung mit Verstrahlung gebracht werden können. Es gibt keinen Grund für diese Annahme. Schon deswegen nicht, weil die Vorsorgeuntersuchungen in vielen Ländern nach dem Unfall dramatisch verbessert worden sind, seit 1986 hat es massive Veränderungen im ehemaligen Ostblock gegeben. In der Studie wird kein Versuch unternommen, Strahlungsexposition mit dem Entstehen von Erkrankungen zu korrelieren.

Die Publikation scheint aus einer Verwechslung hervorzugehen, ob Annals ein Buchverlagshaus oder eine wissenschaftliche Zeitschrift wäre. Die Akademie sandte mir folgende Aussage: "Auf gar keine Weise hat Annals der New York Academy of Sciences oder die New York Academy of Sciences diese Arbeit beauftragt; wir beabsichtigen auch nicht, die Behauptungen in der Übersetzung oder in den Original-Veröffentlichungen oder Zitierungen darin unabhängig zu prüfen. Das übersetzte Werk ist nicht von der New York Academy of Sciences fachbegutachtet worden, auch nicht von sonst jemanden."

Keine Quellenangaben, Widerlegung von Daten durch Anekdoten, willkürlich ausgewählte Studien, Missachtung der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung, Verweis auf Täuschungsmanöver zur Erklärung: all das ist schrecklich bekannt. So machen es die Klimawandelleugner, gegen die grüne Bewegung tapfer gekämpft und die Wissenschaft zu Hilfe gerufen hat. Es ist eine Enttäuschung, zu sehen, dass die Anhänger dieser Bewegung zu den Narrheiten greifen, die sie anprangerten.

Wir haben die Pflicht, unsere Urteile mit der besten verfügbaren Information zu begründen. Nicht nur müssen wir anderen Menschen die Sachverhalte fair darlegen, wir schulden auch uns selbst, keinen Lebenslügen anzuhängen. Großes Unrecht hat diese Bewegung angerichtet. Das müssen wir richtig stellen.

George Monbiot  The Guardian, 5. April 2011 

Anmerkung der Redaktion:

Monbiot vergaß zu erwähnen, dass zum "Hinters-Licht-führen" immer zwei gehören. Die einen die einen "hinters-Licht" führen wollen und die anderen, die sich (gern?) hinters Licht führen lassen.  Man darf außerdem gespannt sein, wann er entdeckt, dass die Klimabehauptungen des Öko-wissenschaftlichen Komplexes auf ebenso tönernen Füssen stehen.

Die Übersetzung besorgte Helmut Jäger EIKE

image_pdfBeitrag als PDF speichernimage_printBeitrag drucken